Sanssouci
hinunterschaute, der ein Stockwerk unter ihr lag. Sie sah auf einen kleinen, künstlich angelegten Bach, der den Garten durchzog, auf einen kleinen Spielplatz, auf den sie gern mit Jesus ging, und sie sah zwei Vögel, die immer da waren, eine Bachstelze und einen Grünspecht. Sie mochte die Vögel, denn sie verbrachten ihre Tage genau wie sie. (Zumindest kam das Merle Johansson so vor.) Der Grünspecht lief gerade bedächtig durchs Gras und hieb seinen Schnabel in die Erde. Er und die Bachstelze gehörten zum Garten dazu, seitdem Merle eingezogen war. Es war ein schöner Garten, still gelegen, schön gemacht, viel Grün, leider war das Spielzeug teilweise aus Plastik, weshalb sie Jesus den Spielplatz zuerst verboten hatte.
Was sie nun aber jedesmal sehr gründlich ärgerte, war die Tatsache, daß nicht sie mit Jesus im Erdgeschoß mit der Terrasse wohnte, sondern das Paar unter ihr.
Das Paar unter ihr ging arbeiten, er trank Bier im Unterhemd, manchmal grillten sie Fleisch, und sie hatten kein Kind. Wenn sie kein Kind hatten, warum wohnten sie dann im Erdgeschoß? Sie hätten von Rechts wegen hier oben in ihrer, Merles, Wohnung wohnen müssen, und sie unten. Es war eine Ungerechtigkeit sondergleichen. Sie hätte ihren Vater dafür verdammen können, daß er ihr diese Wohnung und nicht die im Erdgeschoß besorgthatte. Sie wollte unbedingt die Wohnung im Erdgeschoß, es wäre natürlich gewesen, wenn sie dort gewohnt hätte. Die ganze Gesellschaft war falsch, diese Gesellschaft der Griller und Fleischesser, die darauf aus war, ihren Sohn zu verderben und zu beschmutzen mit ihren Leichensitten, und mit solchen Wahnsinnigen mußte sie mit ihrem Kind zusammenwohnen, und dann auch noch im ersten Stock …
Solche Anfälle kamen bei ihr ganz plötzlich, wenn sie allein war. Ihre Gesichtsmuskeln verzogen sich dann unkontrolliert (niemand durfte diese Miene je sehen, darauf achtete sie mehr als auf alles andere). Nach einigen Minuten waren ihre Gedanken aber wieder bei einem anderen Punkt angelangt. Es hallte nur noch kurz das Gefühl nach, daß eigentlich alle diese Menschen und überhaupt die ganze Gesellschaft ausgerottet und durch eine bessere, nicht wahnsinnige, ersetzt werden müßten. Dann war auch dieses Gefühl wieder abgeklungen, und Merle Johansson rührte Jesus Körner in den Joghurt.
Mit den Körnern war es bei Jesus ein langwieriger Kampf gewesen. Aber Körner reinigten den Körper. Sie beschmutzten ihn nicht. Sie waren vegetabil. Der Mensch hätte eine Pflanze sein sollen. Irgendwie.
Jesus hatte vom ersten Augenblick seines Lebens an unter speziellen Gesichtspunkten und mit höchstem kasuistischem Bedacht ausgesuchte Nahrung bekommen. Die Körner hatte er lange Zeit verweigert. Dafür begeisterte er sich für Tofuwurst, die allerdings Merle wiederum ziemlich widerwärtig fand. Ihrer Ansicht nach war sie überwürzt. Am liebsten hätte sie Jesus salzlos erzogen.
Merle konnte sehr viel Zeit damit verbringen, Joghurt in eine Schale zu geben, eine Mandarine zu schälen, die Mandarine in ihre Segmente zu zerteilen, diese dann auf dem Joghurt in einer dekorativen Weise anzuordnen und schließlich Körner darüberzustreuen, die sie aus verschieden beschrifteten Behältern aus dem Küchenschrank holte. Wenn Jesus alles verweigerte, gab sie sich geschlagen und streute ein wenig Rohrzucker in den Joghurt. Aber nur ein wenig. Und nur Rohrzucker. Anderen gab es in ihrer Wohnung nicht.
Inzwischen aß Jesus mit einem gewissen Appetit. Als er zum ersten Mal selbst nach einem Nachschlag Körner verlangt hatte, hatte sich ein zufriedenes Lächeln auf Merles Lippen gelegt. Dieses Kind würde immer rein bleiben. Sie würde es dem Bösen fernhalten.
Merle aß morgens nichts, nur hin und wieder nahm sie einen Löffel aus der Schale ihres Sohnes.
Später zog sie sich an. Das ging nicht schneller als bei ihrem Sohn. Ein schnelles Hineinschlüpfen in die Wäsche gab es bei Merle nicht. Überhaupt bewegte sie sich nie schnell. Zumindest nicht im Alltag. Ebenso langsam, wie sie sich anzog, zog sie sich auch aus, ob sie allein war oder nicht.
Es war seltsam anzuschauen, wie sie beim Anziehen auf einem Bein balancierte. Es sah aus wie in Zeitlupe. Merle Johansson konnte sich deshalb so langsam bewegen, weil sie ein ausgeprägtes Körpergefühl besaß. Es machte ihr Spaß, zu spüren, wie sie auf dem einen Bein stand und nun das Gewicht langsam auf das andere Bein verlagerte, und wie sich der gesamte Stoff des
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