Sanssouci
Alexandrowka. Dort gab es am Eingang zur Siedlung eine kleine Gastwirtschaft. Drei der sechs Tische waren besetzt, zwischen den Tischen liefen die russischen Kellnerinnen umher.
Lars ging gern essen. Sie haßte Essengehen. Wenn man essen ging, mußte man essen. Wenn man aß, wurde man beobachtet, und es wurde beobachtet, was man aß. Merle Johansson wollte beim Essen nicht beobachtet werden, und es sollte auch keiner wissen, was sie aß. Ihr Essen ging niemanden etwas an. Freilich vermied sie darüber jedes Gespräch. Man durfte sich nie in die Enge treiben lassen. Und sich nie etwas anmerken lassen. Sie bestellte eine kleine Fischsuppe, von der sie das meiste stehenließ.
Sie sprachen heute lang über den Namen für das Kind. Seit zwei, drei Wochen sprachen sie häufig darüber, machten gegenseitig Vorschläge und so weiter. Das bereitete Merle Johansson Spaß, sie fand das schön. Daß der Name bereits feststand (er hatte vom ersten Augenblick an festgestanden), hatte sie natürlich nicht gesagt. Damit hätte sie das schöne Spiel verdorben. Lars Berlow würde ihn der Geburtsurkunde entnehmen …
So neigte sich der Abend dem Ende zu, und damit der ganze Tag der Merle Johansson. Sie saßen bis elf Uhr, redeten zärtlich von einer Zukunft und von anderem, dann zahlte Lars, und später flanierten sie noch eine Weile durch die von Laternen erleuchtete Brandenburger Straße. Hier und da war noch Leben, einige saßen vor dem Dönerstand, auch bei der Pizzeria waren noch Tische besetzt. Weiter hinten wurde die Straße leerer. Sie kamen amCafé Lewy vorbei, drinnen saß gerade der Kulturring Potsdam, Merle erkannte durchs Fenster einige Gäste, etwa den Buchhändler Wenk oder Michael Schwarz vom Potsdamer Theater. Sie entrollten eben ein Plakat. Auf dem Plakat war der Name Max Hornung zu lesen.
Durch den Park konnten sie nicht zu Merles Wohnung zurückfahren, er war geschlossen. Sie nahmen die Maulbeerallee. Überall machte das Licht der Strahler und Laternen die Stadt kulissenhaft. Die Bäume waren voller Laub, Licht und Dunkelheit spielten darin, eine zaubrische Stimmung lag über der Allee. Im Laternenlicht sahen die Gebäude links und rechts um so mächtiger aus, die Neuen Kammern, die Orangerie, das Belvedere. Sie kamen auch an der Stelle vorbei, an der vor drei Wochen Max Hornung ums Leben gekommen war. Man sah den beschädigten Baum, er war in der Zeitung abgebildet gewesen. Sie hielten an, ein süßlicher, schwerer Blütenduft lag in der Luft, eine Nachtigall war zu hören. Lars Berlow und Merle Johansson umarmten sich, küßten sich lang und schauten sich tief in die Augen.
In der Siedlung, in der Merle Johansson wohnte, schliefen schon fast alle. Die meisten Fenster waren dunkel. Auch hier waren Nachtigallen zu hören. Das Liebespaar schlenderte auf den Spielplatz und sog die Nachtluft in sich ein. Dann gingen sie ins Haus, Merle entzündete die Kerze in der Küche und öffnete das Fenster …
… einige Minuten später umarmten sich beide wortlos in der sternenerleuchteten Küchendunkelheit mit dem Zirpen der Grillen und dem Gesang der Nachtigallen im Hintergrund. Die Kerze hatten sie wieder ausgeblasen.
Noch später lösten sie sich voneinander, Merle Johansson machte im Flur das Licht an und kramte draußen herum. Lars Berlow blieb noch bei einem Glas Wein sitzen.
Als er in den Flur trat, wollte er Merle Johansson umarmen. Laß das, sagte sie. Willst du etwas? Du hast nichts zu wollen!
Lars Berlow schwieg und schaute unter sich.
Geh da rein, sagte sie barsch und wies auf das Zimmer mit den Matratzen. Geh da rein, und warte auf mich. Wage nicht, etwas ohne meine ausdrückliche Anweisung zu tun. Knie dich aufs Bett und warte.
Sie ging ins Badezimmer. Zuerst kämmte sie ihr Haar, dann betrachtete sie ihre Zähne, jeden Zahn einzeln. Anschließend nahm sie ihre Zahnbürste und putzte ihre Zähne. Sich Zeit zu lassen gehörte dazu. Nichts sollte vorauszusehen sein. Nach einer Weile zog sie sich aus, langsam, Teil für Teil, und stand dann eine Weile vor dem Spiegel, sich betrachtend. Sie betastete eine Weile ihre Brust, erst die rechte, dann die linke, dann schaute sie beide genau im Spiegel an, dann begann sie, ihre Augenbrauen im Spiegel zu mustern. Schließlich untersuchte sie wieder ihr Gebiß. Anschließend trank sie ein kleines Glas Leitungswasser. Schließlich zog sie ihr schwarzes Oberteil an, blieb dann aber doch noch einmal längere Zeit nachdenklich vor dem Spiegel stehen und betrachtete ihre
Weitere Kostenlose Bücher