Sanssouci
waren wie Katzen, die kamen und gingen, wann sie wollten. Manchmal verlangten sie Aufmerksamkeit, manchmal tauchten sie tagelang nicht auf. Einmal führte Heike mit Mai eine längere Diskussion, als sie in einem alten Duden das Wort Insichvollendetsein entdeckte. Heike war über den Fund des Wortes verblüfft und fand bemerkenswert, daß dieses Wort im Duden genauso selbstverständlich erschien wie etwa Brot oder Milch .
Mai mochte die Zwillinge. Sie faszinierten ihn. Wenn er die Welt durch ihre Augen zu sehen versuchte, sah sie immer vollkommen anders aus. Gewisse Kausalbeziehungen zwischen den Dingen, die alle anderen Leute voraussetzten und nach denen sie sich gemeinhin richteten, existierten für die beiden Geschwister offenbar nicht. Alexej gegenüber nannte er sie meine zwei Mysterien .
Für den achtundzwanzigsten Juli, zehn Uhr dreißig, war mit Briefkopf des Oberbürgermeisters zu einem »allgemeinen informativen« Treffen im Rathaus in der Ebertstraße am Nauener Tor eingeladen worden. Das Treffen war nicht öffentlich. Mai ging die Einladung postalisch in der Gregoriusstraße zu (Dr. Christoph Mai, c/o Dr. Max Hornung, Gregoriusstr. etc.).
Es war in den Tagen, als erste Hornung-Plakate im Stadtbild Potsdams erschienen. Vom Filmmuseum im Marstall wurde eine Veranstaltung Oststadt, die Anfänge angekündigt. Von einem Tag auf den nächsten wurden plötzlich an den verschiedensten Orten in der Stadt Hornungveranstaltungen ersonnen. Das Filmmuseum war unmittelbar nach Hornungs Tod mit dem hiesigen Sender in Verbindung getreten, um sich ein Aufführungsrecht für die ersten drei Folgen von Oststadt zu sichern. Es sollte ein großer Abend im Kino werden, mit einem einführenden Vortrag eines renommierten Filmtheoretikers, mit Podium etcetera . Auch das Theater in Potsdam wurde tätig. Es plante, Oststadt in einer Bühnenfassung herauszubringen. Im Umkreis des Kotz wurden szenische Lesungen der frühen Oststadtfolgen vorbereitet. Man wollte dem offiziellen Kulturbetrieb in der Stadt nicht die Deutungshoheit über die Serie überlassen. In den Zeitungen ebbte das Thema Hornung ebenfalls nicht ab. Kanal Potsdam produzierte ein Feature, das Heiko Malkowski redaktionell betreute. Buttons und T-Shirts mit klassischen Zitaten aus Oststadt wurden entworfen.
Der Magistrat hatte all diesen plötzlichen Aktivitäten zunächst hinterhergehinkt. Nun wollte er durchBündelung der erwähnten Aktivitäten seine Handlungsfähigkeit beweisen. Daher war eine AG Hornung gegründet worden. Sie bestand aus dem Buchhändler Wenk und einer Sekretärin mit Viertelstelle. Wenk war auch im Kulturring Potsdam engagiert. Der erste Versuch der Stadt, Flaggschiff in Sachen Hornungverwertung zu werden, war jenes Informationstreffen im Rathaus.
Wenk stand am Morgen des achtundzwanzigsten Juli gegen halb zehn vor dem Haus in der Gregoriusstraße und klingelte bei Christoph Mai. Wenk wollte gemeinsam mit Mai im Rathaus erscheinen, er kannte Mai von früher und wollte mit ihm unter Beweis stellen, daß er im Hornungkreis gut vernetzt war. Deshalb hatte er an diesem Morgen auch den Schauspieler Erich Overbeck im Gefolge. Overbeck verkörperte in Oststadt den Industriearbeiter Eisenmann. Er war ein fast zwei Meter großer Mann mit eisengrauen Haaren und dem Gesicht eines kampferprobten Haudegen, allerdings mit auffallend hoher Stimme. Overbeck alias Eisenmann hatte mit der Serie Geschichte geschrieben und war in Potsdam eine wichtige Figur, sein Name war untrennbar mit dem Plattenbaugebiet am Schlaatz verbunden. Dort stammte Eisenmann her, und dort wohnte er bis heute. Die Bewohner des Plattenbaugebiets fühlten sich durch die Figur Eisenmanns erstmals öffentlich gewürdigt. Overbeck alias Eisenmann hatte seine Popularität im Schlaatz dadurch zu steigern gewußt, daß er regelmäßig im Stadtteilgemeindesaal als Eisenmann auftrat. Viele Leute im Plattenbaugebiet hätten Hornung, dem Erfinder der Serie, am liebsten ein Denkmal dafür errichtet, daß er sie und denSchlaatz mit all seinen Problemen, aber auch mit seinen liebenswerten Vorzügen, so lebendig dargestellt hatte. Der Schlaatz war nun Woche für Woche im Bewußtsein der Stadtbevölkerung.
Oststadt lief Freitag abends, pünktlich zum Wochenende, am Vorabend des Samstagsstammtischs. Ein Großteil der Stadt saß vor dem Fernseher. Oststadt war daher ständiger Gesprächsstoff. Als Eisenmann arbeitslos wurde, sprach die ganze Stadt über das Arbeitslosigkeitsproblem im Schlaatzgebiet. Als
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