Sanssouci
Beine. Sie hatte mindestens so lange Beine wie die russische Bedienung vorhin. Merle zog das Oberteil wieder aus, öffnete eine Schublade und holte zwei schwarze Strümpfe hervor. Diese Strümpfe zog sie nun an, wobei sie sehr aufmerksam verfuhr. Sie reichten fast an ihrBecken. Merle Johansson betrachtete sich im Spiegel und sah, daß es gut war. Nun löschte sie das Licht im Bad, trat in den Flur und schloß die Tür zu Jesus’ leerem Zimmer, wobei ihr Blick auf das Buchregal im Flur fiel, zufälligerweise auf das Bürgerliche Gesetzbuch , das dort stand. Sie lächelte. Es war das etwa fünfhundertste Lächeln dieser glücklichen jungen Frau am heutigen Tag. Dann trat sie ins Wohnzimmer, das auch das Schlafzimmer war, und schloß hinter sich die Tür.
Drittes Buch
I
Oststadt
In Potsdam wurde es heißer. Die Stadt roch immer staubiger, mittags war das Zentrum, der alte Teil der Stadt, fast menschenleer und hatte sich in eine Steinwüste verwandelt. Besonders das holländische Viertel mit seinen Backsteinhäusern wirkte wie ein Wärmespeicher. Hier und da wagte sich ein Tourist in die schattenlosen Straßen, aber nur, um die Stadt alsbald wieder mit Sonnenbrand zu verlassen.
Wer konnte, tummelte sich um einen der Brunnen in der Stadt. Am Platz der Einheit saßen die Punks, schnorrten die Passanten an und holten sich Bier vom Kiosk. Aus ihren Mienen sprach eine Anklage gegen jeden Vorbeikommenden und eigentlich gegen die ganze Gesellschaft. Sie hatten Hunde dabei und ließen es sich neben dem kühlen Brunnen wohlsein. Es waren auch Kotzleute unter ihnen. Die Studenten lagerten weiter vorn auf der Freundschaftsinsel. Dort sah man bildschöne Mädchen, die ihre T-Shirts hochgestreift hatten, und neben ihnen nicht weniger schöne junge Männer. Auch Lars Berlow lag manchmal da, wenn er in Potsdam war. Er erholte sich gern auf der kleinen Insel zwischen der Alten Fahrt und der Neuen Fahrt. Viel Betrieb war an der Großen Fontäne unterhalb von Schloß Sanssouci, die munter vor sich hin sprudelte. Durch die ständige Anwesenheit von Gänsen und Enten, den überwältigenden Prospekt von Sanssouci und die zentrale Lage im Park war die Große Fontäne mit ihremRondell, den Echobänken und den stets frischen Blumenrabatten das Hauptziel für Familien mit Kindern.
Die, die es zu Hause nicht aushielten oder kein Zuhause hatten, saßen um den Brunnen am Luisenplatz, auch dort befand sich ein Kiosk. Hier war Ludwig Hofmann zu finden und rauchte, wenn sein Sohn zu Hause in der Hitze zu laut wurde. Manchmal gab sich der alte Baron die Ehre und schritt mit erhobenem Kinn durch die Reihen seiner vermeintlichen Untertanen. Da gab es den sogenannten Hundekarl, ursprünglich aus Belzig kommend, immer in Begleitung seines Hundes; es gab den einarmigen Horst aus Jüterbog; und man traf Finsterklappe, eine eher sinistre Person (er hieß mit bürgerlichem Namen Helmut Klippenberg, kam aus Dortmund und trug eine Augenklappe).
Wer reich war, badete von seinem Privatgarten aus im Heiligen See mit Blick auf die Villen von Jauch und Joop.
Merle Johansson pflegte mit ihren Freundinnen an einer bestimmten, etwas abseits gelegenen Stelle im Jungfernsee zu schwimmen. Das war bei ihnen seit Jahren Tradition. Sie liebten Nacktbaden.
So suchte sich in diesen Tagen jeder seine Erfrischung, wo er sie finden konnte.
Christoph Mai saß meist in der Laube in Hornungs Garten, umgeben von Weinlaub und Rosen. Manchmal sprach er über den Gartenzaun hinweg mit Frau Anni Schmidt, manchmal lud er sie zu einer Limonade in die Laube ein. Ansonsten arbeitete er. Anfänglich hatte er sich kaum getraut, einen Blick auf die Sachen seines verstorbenen Freundes zu werfen. Mit der Zeit hatte erseine Scheu aber verloren. Immer wieder saß er mit Papierstößen oder Kladden in der Laube, schaute durch, ordnete, markierte und versuchte Listen zu erstellen. Inzwischen war der Kulturring Potsdam e.V. an ihn herangetreten, weil er eine Gedenkveranstaltung für Hornung ausrichten wollte. Man plante ein Symposium, auf dem das gesamte Werk Hornungs und auch sein Vorleben im Westen, seine Tätigkeit beim Südwestfernsehen, seine schriftstellerischen Arbeiten etcetera dem Publikum vorgeführt werden sollten. Mai verschaffte sich einen Überblick über Oststadt, die Vorbilder für die Serie, ihren Ablauf und den Fortgang (Hornung hatte weit in die Zukunft skizziert).
Die Zwillinge lagen meistens irgendwo im Garten und lasen. Mai hatte sich an ihre Anwesenheit gewöhnt. Sie
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