Sanssouci
gewissen Überblick über seine letzten Jahre und darüber, wie er in den Humboldtring, wo er wohnte, geraten war. Er schilderte sein Leben in etwa so, wie es ein Landstreicher geschildert hätte. Grigorij war augenscheinlich aus allen Bindungen herausgefallen. Er lebte in einer so großen Einsamkeit, daß er manchmal wochenlang nichts sprach, einfach weil niemand da war, mit dem er hätte sprechen können. Übrigens erzählte Grigorij alles so, als sei es völlig normal und müsse genau so sein. Zum Beispiel erzählte er, wie er vor zwei Wochen damit beschäftigt gewesen sei, einen Socken auszubessern, was ihn Tage gekostet habe … er habe weder Nadel noch Faden gehabt, es sei sehr schwierig gewesen, für beides einen Ersatz zu finden … aber er schilderte es nicht so, als sei es ein Zeichen für Heruntergekommensein. Er erzählte es so, als sei es völlig normal. Alexej kam in diesem Augenblick zu der Überzeugung, daß Grigorij schon lange das Bewußtsein dafür verloren hatte, wie es um ihn stand. Er war völlig abgestumpft und fast zu einem Idioten geworden. Allerdings fiel ihm auch Kubain ein, und daß er dort nicht viel anders gelebt hatte als Grigorij hier. Es hatte ihm damals ebenfalls an vielem gefehlt; das warihm aber nie als Problem erschienen, sondern einfach als etwas, das notwendigerweise zum Leben dazugehörte und im Grunde sogar völlig richtig war. Und wie Alexej damals in Kubain immer sehr stolz auf sich gewesen war, wenn ihm durch Improvisieren gelang, einem Mißstand abzuhelfen, so war auch Grigorij hier in Potsdam stolz auf sein notdürftiges Stopfen des Sockens. Er erzählte es mit derselben Zufriedenheit, mit der sie sich damals in Winsen ganz ähnliche Geschichten erzählt hatten. (Auch das Besorgen der Öllichter war im Grunde eine ähnliche Geschichte.) Grigorij stellte überdies als besonders trickreich dar, wie er sich seine hiesige Wohnung verschafft hatte. Allerdings gehörte diese Wohnung augenscheinlich zu den schlimmsten Löchern, die in Potsdam zu haben waren.
Alexej nickte beifällig zu Grigorijs Geschichten und stellte erstaunt fest, daß sich der Bulgare in eine regelrechte Euphorie hineinredete. Grigorij schlug ihm vor, unbedingt Tee in seiner Wohnung zu trinken, das heiße in seinem Zimmer, denn mehr als ein Zimmer sei es nicht, leider. Aber es sei in einem guten Haus. Das sei wichtig: in einem guten Haus unterzukommen. Das habe seine Mutter stets gesagt. (Grigorijs Mutter war schon vor seiner Abreise nach Deutschland gestorben.) Jeden Tag Bewegung, habe seine Mutter gesagt, jeden Tag beten und sich gesund ernähren. Deshalb gehe er jeden Tag nach Sanssouci. So habe es angefangen. Er meine: daß er in den Park gegangen sei. Seine Mutter habe eine bestimmte Art von Kartoffeleintopf gemacht, mit Borretsch und Dill und Fleisch. Übrigens sei sie mit ihm in die Kirchegegangen. Weißt du, sagte Grigorij, ich überlege manchmal, wann ich das Licht zum ersten Mal gesehen habe. Ich habe es ja nie gesehen, immer nur als Andeutung hatte ich es gesehen. Als Andeutung eines Lichtes, könnte man sagen. Also, wann habe ich die Andeutung des Lichtes zum ersten Mal gesehen? Übrigens, ich war zehn und badete in einem Fluß. Als ich aus dem Fluß herauskam, da war es, glaube ich, genau in diesem Moment. Wir waren zu dritt, aber daran lag es nicht. Zwei Mädchen aus unserer Schule warteten auf uns, sie wollten nicht in den Fluß. Sie standen nur dort. Ich war früher stark, weißt du. Ich war kräftig, ich war gesund, das war das Essen meiner Mutter. Ich schloß mich ein, aber nur manchmal. Alexej, weißt du, die Zeit, als wir gern allein waren und uns einschlossen?
Alexej sagte nichts. Er wußte nicht, wovon Grigorij sprach.
Dieses Einschließen … als ich in die Kirche ging, war es ähnlich, das war auch ein Einschließen, und zu Hause habe ich auch immer eine Kerze angemacht. Das Licht, das war immer wichtig, Alexej, verstehst du, wie damals, in Winsen, und Licht … Kerzen … überall sind sie, man bekommt sie, auch wenn man nichts hat, ein Licht gibt einem doch schließlich jeder, und dann … hat man ein Licht, denn nichts ist dauerhafter als ein Provisorium, und Gott hilft einem in jeder Lage, oder nicht? In Winsen hatten wir immer Licht. Aber es waren nur Andeutungen … nur Andeutungen … und weißt du, was passiert, wenn man das Licht sieht? Kannst du dir das vorstellen, das Licht zu sehen? Alexej (er griff Alexej an den Arm),weißt du, was passiert, wenn du das richtige Licht
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