Santiago liegt gleich um die Ecke
Igel? Es ist noch dunkel. Und ich viel zu groggy, um nachzusehen. Dann höre ich den Donner. Unmittelbar darauf platschen die ersten Tropfen auf meine Zeltplane â und es fängt an zu schütten, als würde all der Schweià von mir und den Millionen Menschen, die in der Hitze der letzten Tage unterwegs waren, innerhalb weniger Sekunden retour geschickt. Zwischen mir und dem Inferno nur 0,2 Millimeter Zeltplane. Dabei war der Himmel zum Abendessen noch blau! Ich zerre meine Schuhe ins Zeltinnere. Dabei fällt mir ein, dass mein Zelt auf einer leicht abschüssigen Wiese steht! Ob ich es besser woanders hinstelle? Dann wird mir klar: Es macht vermutlich wenig Sinn, sich nass regnen zu lassen, um nicht nass zu werden. Ãberhaupt: Schlimmstenfalls werde ich eben durchgeweicht wie ein Spülschwamm. Na und? Irgendwo wird es eine warme Dusche geben. Mein Netbook, mit dem ich meiner Frau jeden Abend Fotos hochlade, ist in eine Tüte eingewickelt. Ich nicke wieder ein. Und schlafe besser als vorher. Nur mein Fuà pocht leise vor sich hin.
Als ich erwache, ist es halb neun. Auf der StraÃe vor meinem Zelt unterhalten sich zwei Frauen so leise wie sizilianische Taxifahrer. Egal: Sie hätten auch mit einem Traktor über mein Zelt rollen können â ich hätte nix gemerkt. Ich blicke mich in meiner Mini-Höhle um. Alles ist klamm, an der Innenseite meiner Zeltplane
hängen Tropfen. Mein Schlafsack fühlt sich an wie ein feuchter Polyestersocken. Ich warte ein wenig ab, bis die Stimmen auf der StraÃe weitergewandert sind, dann suche ich mir eine lauschige Stelle im nahe gelegenen Wald, an der ich gewisse Dinge erledigen kann, die man nach zwei WeiÃbier in der Rausmühle am Abend zuvor irgendwann nicht mehr aufschieben kann. Die ersten 100 Meter hüpfe ich mehr oder weniger auf dem rechten Bein â wegen der anderen Blase. Die folgenden Schritte sind die Hölle, aber dann arbeite ich mich allmählich wieder ans Licht: Purgatorium, glühende Kohle, heiÃe Asche â dann ist der Fuà irgendwann taub. Trotzdem habe ich keine üble Laune â im Gegenteil: Ich habe mich nicht unterkriegen lassen ! AuÃerdem sieht es drauÃen aus, als hätte jemand sämtliche Königsblau-Vorräte der Welt mit beiden Händen an einen makellosen Himmel geworfen. Zurück am Zelt finde ich einen der beiden Schokokekse, die Heike mir hinter Beyenburg in die Hand gedrückt hatte. Hatte ich völlig vergessen! Was für ein köstliches Frühstück!
Irgendwann kommt Werner vorbei â ich habe den Verdacht, dass er hinter der Gardine gewartet hat. Er fängt auf der Stelle an zu erzählen. Von seiner Kriegsgefangenschaft in Ãgypten. Heià sei es da gewesen, im Zelt, sagt er, aber mit Hitze käme er klar, besser jedenfalls als mit dem kalten Winter hier oben. Und ob es mir wirklich nichts ausmache, alleine zu wandern. Und wieder erzählt er vom Tod seiner Frau. »Seit sechs Jahren bin ich alleine«, sagt er. »Sie haben doch eine nette Tochter«, sage ich. » Das ist ganz was anderes. Die hat ihren eigenen Kopf«, erwidert Werner und lädt mich zum Frühstück ein. Dann betrachtet er mich eine Weile. »Und Sie wandern wirklich ganz allein?«
Auf dem Küchentisch liegt eine Zeitung. Ich blättere sie beiläufig durch. Irgendein Idiot wirft einem
anderen Idioten in einer konkurrierenden Partei irgendetwas vor â irgendwie kann mich dieser ganze Kram nicht mehr fesseln. Viel spannender finde ich dagegen einen Artikel über die Schlösser, die Paare an der Hohenzollernbrücke in Köln anbringen. Als Liebesbeweis. Die Schlüssel werfen sie anschlieÃend in den Rhein. Ob mich mein Weg da vorbeiführt? Ich könnte nachgucken, lasse es aber aus irgendeinem Grund bleiben. Mein Gastgeber lässt derweil eine Handvoll fingerdicker Fleischwurstscheiben auf den Tisch purzeln und bittet mich zuzulangen. Ich schüttele den Kopf. »Sie wollen wirklich auf sich gestellt sein«, sagt Werner. »Und es macht Ihnen wirklich nichts aus, alleine zu sein?« Ich sage nichts. Werner schenkt mir noch eine Tasse ein. Und lächelt in sich hinein.
Keine allzu groÃen Steigungen heute, immerhin. Es riecht nach feuchter Erde und jungem Laub, ständig laufe ich an flieÃendem Wasser vorbei, es guggelt und gluckert überall â kein Wunder: Der Weg mäandert hier am Eifgenbach entlang, einem kleinen,
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