Santiago liegt gleich um die Ecke
so aus, als hätte jemand Quecksilber in ein Tal gegossen. Kurz vor dem Gewässer â der Eschbach-Talsperre â läuft der Weg auf ein steinernes Denkmal zu, in das seltsame, alte Buchstaben gemeiÃelt sind. Ich streiche mit der Hand über die Inschrift und lese das Hinweisschild daneben komplett durch: »Bitte für die Seele des Herrn Josef Weizels, dessen Ãberfall dieses Kreuz gesetzt ist, zum Gedächtnis an den 17. Oktober im Jahre des Herrn 1554«. Mach ich doch gern â mit zwei Quadratmetern Gänsehaut: Mit diesem Ãberfall ist nämlich eine bemerkenswerte Sage verknüpft. Als der Herr Josef Weizel schon sterbend am Boden lag, soll er nämlich ein paar Wacholderdrosseln angefleht haben, seinen Tod zu rächen. Die lieÃen sich nicht zweimal bitten: Als die Mörder abends in einem Wirtshaus einkehren, gibtâs ausgerechnet â gegrillte Wacholderdrosseln. »Die verraten uns nicht mehr«, sagt einer der Mörder; daraufhin wird der Wirt misstrauisch und die Räuber werden in Köln hingerichtet. Seltsames Gefühl: Legenden und Märchen kennt man ja eine Menge. Liest sie, legt das Buch zur Seite und gut. Aber dann im Realspace an dem Ort zu stehen, an dem die Sage ihren Anfang nahm, ist eine ganze Nummer gröÃer! Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich nicht nur wandere, sondern mich tatsächlich in eine gröÃere Traditionslinie einreihe. Ich verneige mich etwas verstohlen. Dabei erinnere ich mich an eine Bronze-Urne voller Knochensplitter, die ich erst vor ein paar Tagen in einem Archäologischen Museum gesehen habe: Der Tote war auf einer Reise gestorben, irgendjemand hatte ihn dann in diese Urne gepackt. Aus heiterem Himmel habe ich plötzlich die Hände gesehen, die das Ding einmal gehalten hatten, hörte die Gespräche, die die Menschen mit diesem Behältnis in der Hand geführt haben. Das ganze Museum war plötzlich mit leisen Stimmen erfüllt; ein stilles Murmeln, das sich aus dem Rauschen erhob, zu dem sich die Gespräche der letzten 10.000 Jahre aufsummieren, man muss sehr genau lauschen, um es zu hören. Ich begriff immerhin, dass die Stimmen freundlich sind â nach so vielen Jahren bleibt nichts Böses zurück. Jedenfalls: Die Urne des verstorbenen Reisenden war mit Kranichen verziert. Niemand weià mehr, was die den Leuten damals bedeutet haben. » Man nimmt nichts mit ⦠« Nanu: Dieser Gedanke scheint mich schon eine ganze Weile länger zu beschäftigen, als ich ahne.
Das Leben ist ein geschlossener Kreis. Du gehst, wie du gekommen bist â mit leeren Händen.
Später finde ich am Seeufer eine Stele, auf der ein paar lokale Stationen des Jakobswegs verzeichnet sind. Fast möchte ich ein paar Spaziergängern auf die Schulter tippen und sagen: » Ich bin einer davon! Ich gehöre dazu! Ich bin Teil einer über 1.000 Jahre alten Tradition!« â und darf bald feststellen, dass ich tatsächlich nicht der Einzige bin, der hier im Zeichen der Muschel unterwegs ist. Wenn auch momentan zugegebenermaÃen der Einzige im Dienst. An der Staumauer werde ich nämlich von einem netten Pärchen angesprochen: Uschi und Wolle haben die Muschel auf meinem Rucksack gesehen und fangen sofort an zu erzählen. Sie sind Ex-Santiagos. Allerdings nicht von Saint-Jean-Pied-de-Port aus losgelaufen, sondern von Astorga aus, weil sie sich die langweilige Meseta klemmen wollten. »Astorga ist herrlich. Ãberall Wälder â das ist wunderbar. Wollen wir unbedingt nochmal erleben!«, sagt Wolle. In der Kathedrale hätten beide geweint. Als ich erzähle, dass ich gestern an Beyenburg vorbeigelaufen bin, klopft er mir auf die Schulter: »Das zeigt, dass du wirklich auf dem Weg bist!« Nachdem sie gegangen sind, stehe ich um eine
Notfall-Handynummer reicher noch eine Weile herum und lasse diese Begegnung in mir arbeiten, so wie man ein Foto immer wieder hervorholt, um sich weitere Details einzuprägen.
Von Weitem ist Wermelskirchen gar nicht so übel. Viele schöne und gepflegte Bürgerhäuser, fast schon Villen; im Stadtzentrum haben die Einwohner ab und an ein wenig Schiefer-Lennep-Flair zugemischt. Es ist noch früh am Tag, noch nicht mal zwei Uhr! Ich freue mich, bald meinen Rucksack in die Ecke zu werfen und meine FüÃe â vor allem den linken â unter den Tisch einer Eisdiele zu stellen! An einem Kiosk schaue ich mir schon
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