Santiago liegt gleich um die Ecke
respektablen Flüsschen, das mit einem Affenzahn an mir vorbeirauscht. Laut Pilgerführer gönnt sich das Gewässer eines der reizvollsten Bachtäler des Bergischen Landes, flankiert von wunderhübschen Auen, auf denen tiefgrünes Zeug in 10.000 Varianten wächst. Ich halte mein Lächeln in den frischen Morgen. Als ich an einen Baum inmitten all des Friedens den Kaffee von vorhin loszuwerden versuche, passiert allerdings etwas, das nie passieren durfte: Mein Pilgerstab macht sich selbstständig . Etwa so, wie man bei einem Verkehrsunfall ein Auto auf sich zurollen sieht, ohne etwas machen zu können, registriere ich, wie er zunächst in aller Gemütlichkeit am Stamm entlang rutscht, sich keck in die Horizontale begibt, dann ruhig, aber durchaus entschlossen den kleinen Hang in
Richtung Fluss hinunterrollt und rollt und rollt, einmal fast an einer Wurzel hängenbleibt, nur um dann erneut Fahrt aufzunehmen und schlieÃlich im Wasser zu landen. Offenbar denkt das Ding auch nach diesem Stunt keinesfalls daran, in Ruhe auf Bergung zu warten: Der reiÃende Strom flieÃt an dieser Stelle so schnell wie in der Turbo-Wasserrutsche eines Vergnügungsbades â und mein Stab mit ihm. Und das Ufer ist zu steil! Ich werfe meinen Rucksack von mir wie eine ausgebrannte Raketenstufe und renne den Eifgen-Amazonas entlang, immer den kommenden Flusslauf im Auge, wer weiÃ, vielleicht kommt da ja ein Wasserfall, im Kino kommen in solchen Szenen ja immer Wasserfälle. Ohne recht hinzugucken, greife ich mir einen langen Ast und muss doch zusehen, wie mein Stab immer weiter an Tempo zulegt. Der Weg ist holprig wie ein BarfuÃlauf-Parcours, aber irgendwie schaffe ich es trotzdem, meinen Begleiter zu überholen. Beim ersten Versuch, ihn zu bergen, flutscht er noch wie ein Hering durch die hingehaltene Astgabel, aber beim zweiten schaffe ich es, ihn so zu verkeilen, dass ich ihn mit einem anderen Stück Holz, das ich mit dem rechten Fuà am ausgestreckten Bein angele, aus dem Wasser heben kann â gerade so weit, dass ich ihn eben mit den Fingerspitzen greifen kann, ohne mich selbst ins Bachbett zu legen. He: Am Rheinufer darf mir das aber nicht passieren! Etwas benommen von dem Schock gehen mein Stab und ich gemeinsam weiter: Das Ding ist mir stärker ans Herz gewachsen, als ich dachte.
Ein paar gefühlte Stunden danach verpasse ich eine Abzweigung und gehe einen glatten Kilometer zu weit. Bin schon wieder in Gedanken. Und zwar in sehr seltsamen: Ich ärgere mich, dass mir der Weg immer noch nicht gezeigt hat, was er denn nun bitte mit mir vorhat. Fast eine Woche on the road ! Wirklich alles gegeben! Aber auÃer einem trüben Geistesblitz über das Auf und Ab des Lebens und einer immerhin ganz nett erleuchtenden Frage zum Thema »Was nehme ich am Ende mit?«, war da noch nix GroÃes gekommen. Und jetzt das : »Anstatt zu fragen, was der Weg dir beibringen will«, denkt es in mir plötzlich, »solltest du dir vielleicht mal klarmachen, was du dir damit zeigen möchtest.« So recht verstehe ich diesen Gedanken nicht. Ich will mir schlieÃlich gar nix zeigen. Dafür bin ich hier nicht zuständig. Aber ich schreibe ihn auf.
Pause. Sehe mir meine Blase genauer an. Entdecke rohes Fleisch darunter. In einer Ecke ist ein schwarzer Punkt. Himmel â eine Nekrose? Wundbrand vielleicht? Seit ein paar Kilometern humple ich wieder mehr, als dass ich laufe. Käptân Ahab würde sich neben mir ausnehmen wie Haile Gbrselassie neben Dieter Pfaff. Nach jeder Pause brauche ich ganze Minuten, um den Fuà überhaupt wieder aufsetzen zu können. Inzwischen kann ich auch meinen linken groÃen Zeh
nicht mehr bewegen. Blutvergiftung? Eine seltsame Lähmung? Ãberhaupt: Drei Tage in Folge bin ich viel, viel weiter gelaufen, als ich eigentlich wollte. So geht das nicht weiter! Immerhin: Diese Etappe ist auf jeden Fall eine der allerallerschönsten bisher: Es ist warm, die Gegend sieht aus wie die Abschlussarbeit eines begabten Erzengels im Leistungskurs »Schöpfung«. Vielleicht ist es ja sogar ganz gut, dass ich mehr krieche als gehe, da kriege ich mehr von der Gegend mit! Irgendwann passiere ich sogar die Ãberreste der alten Eifgenburg. Die Idee, auf ihren Ringwall zu klettern, verwerfe ich allerdings ganz fix â ich müsste das auf Händen erledigen. AuÃerdem ist mir inzwischen etwas schwindelig. Und Hunger habe ich jetzt
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