Santiago liegt gleich um die Ecke
auch.
Kurz vor Altenberg wird der Weg zu einem kleinen Pfad, links der Bach, der besonders schön funkelt vor lauter Vorfreude darauf, gleich in die Dhünn zu münden. Ich wuchte mich über zahllose Wurzeln und bin hier und da froh, mir mit meinem Stab einen zusätzlichen Halt verschaffen zu können. Plötzlich Asphalt, dann wächst vor mir ein Gasthaus aus dem Boden, vor dem Unmassen junger Eltern mit kleinen Kindern herumlaufen. Auf einem Schild steht »Märchenwald«. Und es ist Wochenende ! Sogar Ostersamstag ! Ich finde dennoch einen freien Platz â und mache inmitten von heulenden Kindern und bis aufs Blut genervten jungen Leuten eine bemerkenswerte Entdeckung: Ich werde gelassener! Endlich! Allerdings kann ich vor Hunger kaum noch aus den Augen gucken, meine FüÃe sind prall wie Wasserbomben und meine Zunge ist ein Tafelschwamm kurz vor Ende der groÃen Ferien; meine Wasserflasche hatte ich heute Morgen gar nicht erst aufgefüllt. Was sind schon zwölf Kilometer! Jajaja: Einen freundlich angebotenen Berg Fleischwurst samt Brot ablehnen und ein paar Stunden später vor Hunger fast umkommen â prima hingekriegt!
Dafür ist es, wie ich bald erkenne, nur noch knapp ein Kilometer bis zum Altenberger Dom mitsamt Zisterzienserkloster mit eingebauter Pilgerherberge!
Als ich durch die Pforte auf das Gelände trete, ist es, als tauche ich in eine Wolke aus goldener Watte. He, lächle ich da etwa? In der Rezeption balanciere ich etwas auf den Zehen und stütze mich auf meinen Stock. Ich bekomme ein Einzelzimmer für ganz kleines Geld; auf dem Weg dahin führt mich ein Zivi über einen sonnigen Innenhof, in dem eine Gruppe Jugendlicher mit Zetteln auf der Stirn um einen Tisch herum sitzt. Einige winken mir zu. Mein Domizil ist ein nettes, helles Zimmer mit einem sauberen Bett, einem Schrank und einem Tisch â mehr nicht. Meine kleine Klosterzelle! Dusche und WC sind am Ende des Flurs. Dafür gibt es eine Waschmaschine. Was will ich mehr? Ein Sofa vielleicht? Bingo â es gibt einen Aufenthaltsraum mit warmem Parkettboden, auf dem ein paar bequeme Sessel, ein Fernseher und ein Wäscheständer stehen. In der Gemeinschaftsküche finde ich Millionen von Tassen, von der keine der anderen gleicht, vor dem Ofen steht ein Esstisch, an dem die Waltons Platz fänden. Ich stelle mir vor, dass hier bereits Generationen von Pilgern ihre Spaghetti geteilt haben; ich höre Besteck klickern, jemand schenkt Wein ein, einige lachen. Hier gehöre ich hin! Ich humple zurück in mein Zimmer.
Die Erfahrung, wie wenig man zu einem glücklichen Tag braucht, wird gröÃer.
Komisch nur: Trotz allem ist mir irgendwie gar nicht gut. Trotz Riesenzwiebelbraten im Märchenwald habe ich immer noch Hunger wie ein Pferd, das man auf einer abgefressenen Weide vergessen hat. Ich haue mich eine Weile hin, bis in der Etage über mir Kinder brüllen, als sei eben ihre Playstation explodiert. Blick
auf die Uhr: Ich habe zwei Stunden geschlafen wie ein sonnenwarmer Stein. Ich wanke etwas benommen unter die Dusche. Dort werde ich schlagartig wach: Ein anderer Pilger hat eine Flasche mit Duschgel stehen lassen! Das besondere: Sie ist fast leer. Raaah: Ich habe all die Tage eine volle Flasche mit mir herumgeschleppt. Locker 300 Gramm zuviel! Heute Abend werde ich mir meinen Rucksack noch einmal vornehmen! Und den Reiseführer für die nächste Etappe im Voraus lesen â der geht nämlich nur bis Köln! Meine Bandscheiben singen schon ein kleines Freudenlied. Ob ich noch mehr Ãberflüssiges finde?
Irgendwie reicht die Dusche nicht, mich wieder in die Spur zu bringen. Ich mache ein paar Schritte zum Dom und merke: Alle! Akku leer. No chance . Kann meinen linken Fuà jetzt gar nicht mehr aufsetzen, und meinen groÃen Zeh spüre ich immer noch nicht. O. K.: Am siebten Tag soll man eh ruhen! Ich hinke zur Rezeption und versuche, aus dem Stehgreif ein medizinisches Dossier zu verfassen â schlieÃlich weià ich, dass man in spanischen Pilgerherbergen nur in Ausnahmefällen länger als einen Tag bleiben darf. Hier nicht: Keine Frage, kein Attest, lediglich ein kurzer Check im Computer â alles O. K. AnschlieÃend schlage ich mich zum Café des Domhotels durch und finde einen diebischen Spaà daran, unter all den Leuten im feinen Zwirn den unrasierten Pilger-Outlaw zu spielen. Vielleicht verleiht mir mein Hinken ja einen gewissen
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