Santiago liegt gleich um die Ecke
»Ich bin zu Fuà hier, ihr Luschen«-Charme ⦠Wahrscheinlich sehe ich aber einfach nur erbärmlich aus. Nach einer Weile in der Sonne nehme ich mir meinen Reiseführer vor. Als Erstes lese ich ein einführendes Kapitel, das ich bei meinen Reisevorbereitungen zu Hause aus irgendwelchen Gründen übersprungen hatte. Jetzt sitze ich mit offenem Mund davor. Kostprobe: »Die Erfahrung, wie wenig
man zu einem glücklichen Tag braucht, wird von Tag zu Tag gröÃer und die âºSchätze der Weltâ¹, an denen unser Herz hängt, verblassen mehr und mehr.« Das haut mich um. Weil ich genau das in genau diesem Augenblick erlebe. Ich brauche wirklich nichts mehr als meinen Rucksack und vielleicht ein Zelt. Bin ich jetzt ein richtiger Pilger? Ich sitze hier und kann nicht mehr weitergehen, selbst wenn ich wollte, und begreife plötzlich, was Unterwegssein bedeutet. Ich habe überhaupt keine Angst mehr! Neben mir fängt ein Kellner ein kleines Kind ein, das sich verlaufen hat. Mein Gott! Kriegt denn hier plötzlich alles einen doppelten Boden?
O. K. â so ein Held bin ich auch wieder nicht. Allmählich erfasst mich nämlich eine leise Panik ob der Tatsache, dass ich noch so viel Zeit habe. Es ist erst früher Nachmittag. Und jetzt? Ich besorge mir einen Busfahrplan. He, wie wäre es denn mit einem Abend in Köln? Aber Pustekuchen: Das hier ist das flache Land, Baby! Darum hat die Sache einen ziemlichen Haken: Ich müsste schon um 18:30 Uhr zurückfahren. Kein Dinner in einem Kölner Steakhaus also. Mist, das ist aber ein Hardcore-Entzug! , denke ich. Da konnte ich auch noch nicht ahnen, welche Wendung die Sache heute Abend noch nehmen würde.
Auf Humpeltour um den Dom stolpere ich plötzlich über das Denkmal für den Weltjugendtag 2005. Eine Art Labyrinth aus gespendeten Ziegeln. Was für eine tolle Idee! Als ich die erklärende Tafel davor lese, steigt aber schon wieder Ãrger in mir hoch: Das Motto des Denkmals ist nämlich: » â¦der EINE Weg zur Mitte.« Der EINE Weg? Halloo? Was ist denn Bitteschön mit all denen, die an etwas anderes glauben als an den christlichen Gott â und zwar mit mindestens derselben Inbrunst? Und ja, möchte man anfügen:
Berechtigung? Was ist mit den Religionen zum Beispiel, die ihren Anhängern kein Leben nach dem Tod versprechen und sie zum Beispiel nicht in ein freudloses Leben und womöglich sinnlose Kriege treiben? Der EINE Weg â das ist für mich der Weg, der direkt in genau diesen verbohrten Fundamentalismus führt. Die Pest unserer Zeit! Dann allerdings muss ich plötzlich lachen: Das Denkmal hat nämlich doch einen zweiten Weg zur Mitte. Einen besonders breiten sogar: Einen Zugang für Rollstuhlfahrer, die in dem einen, wahren Labyrinth stecken bleiben würden. Na also! Geht doch! Ich zwinkere dem Architekten des Denkmals im Geiste zu. Im Dom finde ich noch was Nettes: Eine kleine Plastik, in der ein mit den FüÃen noch ans Kreuz genagelter Jesus zwei vor ihm kniende Herren umarmt: Martin Luther und Bernhard von Clairvaux, den ich bisher um drei Ecken eher mit dem Templerorden in Verbindung gebracht hätte, der aber mit dem Ex-Kloster hier eng verbunden ist. »Nun seid mal wieder jood«, scheint Jesus zu sagen. »Die ist schön«, sage ich zu zwei Leuten, die mit mir davor stehen. »Ja, schön ökumenisch«, antworten sie, aber sie klingen so wie Michelangelo-Fans, die nach Ihrer Meinung zu einer Bernd-und-Hilla-Becher-Fotografie gefragt werden.
Bis zum Essen verbringe ich noch etwas Zeit damit, mein Gepäck eingehend unter die Lupe zu nehmen. Ich habe bei jedem Ding, das ich eingepackt habe, zwei-, drei-, sogar viermal überlegt, ob es wirklich mit muss. Selbst am Morgen meiner Abreise habe ich den Inhalt meines Rucksacks noch einmal einer eingehenden Revision unterzogen. In allerletzter Minute hatte ich zum Beispiel die Pflasterschachtel weggeworfen, das Insektenspray und die aufblasbare Isomatte â letztere ersetzt durch ein dünnes Schaumstoffding, das ich meiner Frau aus ihrer Yoga-Tasche
geklaut hatte. Gespart: bestimmt ein halbes Pfund! Ich schnitt die Etappen, die ich nicht laufen wollte, aus meinen Pilgerführen, zog den ReiÃverschluss des Rucksacks zu und hoffte inständig, dass er mir unterwegs nicht aufplatzt wie eine Springkrautblüte. Jetzt wundere ich mich, was ich noch alles entdecke: FuÃpilzspray: weg.
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