Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
Vom Netzwerk:
Pyjama: weg. Ersatzbatterien: weg. Die Uhr, die bis zu meiner Abreise funktioniert hat, aber seltsamerweise genau seitdem steht, fliegt ebenso raus wie ein Buch, in dem ich bislang noch keine Seite aufgeschlagen habe. Und – mein Gott: Ich habe tatsächlich einen Fön dabei !!! Und eine Ersatz-Jakobsmuschel! Als ich all das überflüssige Zeug in eine Tüte stecke, fühle ich mich wie nach einer vierwöchigen Hollywood-Diät – zwei Kilo weniger! Außerdem ist jetzt endlich Platz für Proviant. Ich hatte zu Hause gar nicht dran gedacht, dass man irgendwo schließlich auch ein paar Brötchen unterbringen muss …
    Im Speisesaal treffe ich die Schüler mit den Zetteln auf der Stirn wieder. Zuletzt saßen sie – ohne Zettel – im Hof vor meinem Zimmer und haben Kerzen bemalt. Jetzt singt die Gruppe sehr, sehr ernst gemeinte christliche Lieder. Eine attraktive rothaarige Frau in meinem Alter sitzt bei ihnen und umschwärmt die Kids am Buffet wie ein schweres Parfum. Ich habe leider eine Tafel ganz für mich allein – darauf steht sogar ein Papierkärtchen mit der Aufschrift »Pilger«! Am Nachbartisch unterhalten sich ein paar Mädchen. Eines meint, sie fände »alle Organisationen, in denen man vorgefassten Ideologien nachlaufen muss, gaaanz schlimm«. Ich hoffe, sie ist schlau genug, mit dieser Haltung irgendwann auch mal das eine oder andere christliche Dogma zu hinterfragen. Egal: Ich konzentriere mich auf mein Essen. Es ist karg – trockenes Brot, Wurst, Käse, Wasser, Nudelsalat – aber köstlich ! Seltsam ist nur, dass ich danach immer noch
Hunger habe, obwohl ich beim besten Willen nichts mehr runterkriege. Ich habe Durst wie ein Delfin nach 30 Tagen auf dem Mars, aber das Mineralwasser schmeckt mir wie eine Sonderabfüllung aus dem Rhein-Herne-Kanal. Irgendetwas stimmt nicht. Langsam wird mir wieder ein wenig schlecht, ein leichter Schwindel packt mich. Bin jetzt restlos alle, als hätte ich den Mount Everest bestiegen. Mit Nasenklammer. Dabei habe ich doch heute wirklich nicht viel geleistet!
    Wieder in meiner Zelle setze ich mich an den Schreibtisch. Klappe das Netbook auf, um die Fotos des Tages hochzuladen. Als ich gegen neun Uhr aufstehen will, um mich vor dem Osterfeuer noch eine halbe Stunde hinzulegen, greift plötzlich irgendjemand sehr Schweres nach mir: Ganz schlechte Idee , sagt er. Ich stehe vor dem Schreibtisch und bibbere am ganzen Körper. Das Zittern kommt in Wellen, und immer fängt es in meiner Brust an. »Scheiße, ein Herzinfarkt«, denke ich.
    Irgendwie gelingt es mir, mich zu meinem Bett zu schleppen, ohne auf dem halben Meter davor zusammenzusacken wie ein Heißluftballon nach der Landung. Die Decke über mich zu ziehen, kostet all meine Kraft. Meine Zähne klappern. Was ist das denn jetzt? Ich nehme alle Kraft zusammen und schaffe es, meinen Puls zu fühlen. Die Rechnung dafür kommt in Form einer Zitterattacke, die mich eine Minute völlig lahmlegt. Ich fühle mich, als läge ich im Marianengraben und müsse mit jeder noch so kleinen Bewegung hunderttausend Tonnen Wasser beiseiteschieben. Aber mein Puls ist sehr kräftig und nicht einmal besonders schnell: Kammerflimmern kann ich wohl ausschließen. Beruhigt mich ein wenig. Trotzdem kann ich mich kurz darauf gar nicht mehr bewegen. Dann fällt mir auch noch ein, dass ich die Zimmertür vorhin abgeschlossen habe. Idiot! Und jetzt kriege
ich nicht mal den kleinen Finger hoch. Der Notarzt müsste also die Tür aufbrechen. Der Notarzt! Mein Handy liegt auf dem Schreibtisch! Und der ist weiter weg als Proxima Centauri. Hilfe holen kann ich also vergessen. Ich versuche, mich auf die Seite zu drehen. Es haut nicht sofort hin. Ich sammle ein paar Minuten Kraft. Als ich diesen Akt hinter mir habe, ist mir richtig schlecht. Ich beginne zu frieren, trotz Decke.
    Immerhin: Mit der Zeit merke ich, dass alles in Ordnung ist, wenn ich nur so daliege; die Zitterei beginnt erst, wenn ich versuche, mich zu rühren. Und mein Gehirn funktioniert ja irgendwie auch noch, denke ich. Ich dämmere etwas weg. Alles ist Ruhe plötzlich, ganz stille, tiefe Ruhe. Ich schwebe über dem Mond und erfreue mich an seiner niedrigen Schwerkraft. Bin so unglaublich müde. Kurz bevor ich einschlafe, zuckt mein linker Arm und reißt mich zurück auf die Erde. Ganz, ganz kurz habe ich die verrückte Assoziation, mit Flügeln

Weitere Kostenlose Bücher