Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
Vom Netzwerk:
geschlagen zu haben. Keine Ahnung, wie lange ich schon so daliege – aber ich merke, dass ich wieder zu kleineren Bewegungen fähig bin, ohne dass mir übel wird. Den Arm anwinkeln kann ich zum Beispiel. Tief durchatmen geht auch wieder. Was für ein Luxus Atmen doch ist! Wie kostbar die einfachsten, selbstverständlichen Dinge! Aufrichten geht allerdings immer noch nicht: Als ich es versuche, fühle ich mich wie ein Kind, dem jemand seinen Teddy verbrennen will. Aber ich kann warten! Dabei fällt mir auf, dass mir unter der Decke heiß geworden ist. Aber ich schwitze überhaupt nicht.
    Irgendwann gelingt es mir aufzustehen. Mir wird schwindelig, aber ich falle wenigstens nicht um. Als Erstes schließe ich die Zimmertür auf. Dann fülle ich mir ein Glas Wasser und trinke es aus. Es schmeckt ekelhaft. Fülle noch eins. Trinke. Noch eins. Noch
eins. Noch eins. Kein Durst – aber trinken ist nun mal alles, was ich tun kann. Vor meinem Fenster ziehen ständig singende Gruppen vorbei, ich höre viele schwache Stimmen, die mehr hoffen als glauben, und einige kräftige, vor allem von Männern, die keinen Zweifel mehr haben. Ich wanke zurück zum Bett. Falle hinein. Fühle mich, als wäre ich von einem Lastwagen überfahren worden. Oder von Gott persönlich angerempelt. Von einem zornigen, bösen Gott in einer schwarzen Lederjacke. Danke, lieber Jakobsweg. Da habe ich ja endlich mein Zeichen.

Was Glück wirklich ist
Ostersonntag, 12. April 2009 – Altenberg
    Mein Bett ist nass wie ein Kubikmeter frisch angeschwemmter Pelzalgen – und ich fühle mich, als hätte ich sieben Jahre unter einem Stein gelegen. Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich traue, mich zu bewegen. Ich balle die Fäuste, strecke mich, atme tief ein – dann ein Ruck! Als ich meine Füße auf den Boden setze, durchfährt es mich: Meine linke Sohle brennt, als würde ich sie in flüssiges Chrom tauchen. Trotzdem! Ich kann sogar herumlaufen , wenn ich den Fuß vorsichtig belaste. Bin immer noch unglaublich schlapp. Aber hey – bin ich jetzt dem Tod von der Schippe gesprungen? Müsste dann nicht alles irgendwie – anders sein? Ich bin ein einziges rotes Fragezeichen. Ich hinke in den Duschraum, wasche meine Klamotten, um wenigstens irgendetwas zu machen. Ziehe mir meine Regensachen an und trage den Wäscheständer, den ich im Aufenthaltsraum gefunden habe, in den Innenhof. Der Himmel ist ein wenig trüb, aber es könnte ein schöner Tag werden. Plötzlich kommt mir das gruselige Ereignis von gestern Abend vor, als hätte ich es im Kino gesehen. Ich bin fast schockiert, wie normal alles ist.
    Nachdem ich einen halben Liter Wasser und fast noch mehr Kaffee getrunken habe, fordert mich schon der Gang zur Wursttheke des Frühstücksraums wie eine Pilgerreise über die Alpen: Das verdammte Blasenpflaster hilft überhaupt nicht. Ein Tag wird nicht reichen, um den Fuß auszukurieren. Vielleicht sollte ich alles zu Hause heilen lassen und irgendwann wiederkommen – auch wenn ich weiß, dass das nur eine höfliche Umschreibung für »Aufgeben« ist.

    Der Domplatz ist trotz der frühen Tageszeit voller Leute. Ich hinke nochmal in den Buchladen. Vor einem Regal voller Anselm-Grün-Bücher steht ein dicker Mann im Anzug und erzählt seinem Handy, dass er im Dom keinen Sitzplatz mehr bekommen hat. Ich werde neugierig und schiebe mich mit ein paar anderen Leuten durch das schwere Portal. Eine Orgel spielt; ganz vorne stehen Männer in Spitzenkleidchen und machen irgendwas mit Weihrauch. Die Gemeinde singt. Plötzlich steigen in mir Tränen hoch. Ich muss raus hier, und zwar schnell. Was ist nur los mit mir?
    Meine Frau meint, das gestern wäre vielleicht ein Hitzschlag gewesen. Ich habe mir für das Telefonat eine Stelle im Innenhof des ehemaligen Klosters ausgesucht. Hier sonnen sich ein paar Tische auf einer Wiese, ein kleiner Springbrunnen plätschert vor sich hin, der schwere, massive Dom hält mir den Rücken frei. Irgendwie mag ich diese Stelle. »Wie viel haste denn getrunken?«, fragt sie. Ich rechne überschlägig nach und komme vielleicht auf eineinhalb Liter, dazu noch drei Tassen Kaffee, die aber nicht wirklich zählen. Mineralmangel? Ich beschließe, mir am Automaten vor dem Frühstücksraum umgehend eine Packung Salzstangen zu ziehen und mir irgendwo eine Bouillon zu besorgen. »Im

Weitere Kostenlose Bücher