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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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    Kurz vor Bad Münstereifel vereinigt sich der Kölner Zweig des Deutschen Jakobswegs mit einem weiteren, der über Rheinbach aus Bonn kommt. Irgendwie bin ich von diesem Link enttäuscht: Ich hatte erwartet, dass hier Zehntausende von Pilgern aus Bonn auf mindestens ebenso viele aus Köln prallen und über heilige Erlebnisse plaudernd lachend Arm in Arm weiterziehen. Stattdessen bin ich hier weit und breit der einzige Wahnsinnige. Tja: Vor ein paar Tagen hatte ich mir noch vorgenommen, ein paar Meter Richtung Bonn zu gehen, um wenigstens ein kleines bisschen Ahnung von der Weite des Deutschen Jakobswegenetzes zu bekommen. Jetzt stapfe ich einfach weiter. Schlurfe nur noch, komme kaum noch voran. Wasser, überall Wasser … Ich bin so nass wie ein Keramikstiefel in einem Aquarium. Die Grenze zwischen dem Regen und mir ist schlicht und einfach meine Haut – die Jacke, die Membranhose – alles hat versagt. Meine Schuhe sind zwei Eimer voller Schlamm, die mir jemand unter die Füße gebunden hat.
    Mein Verstand präsentiert mir plötzlich reihenweise Antworten auf Probleme, die ich seit Jahren immer wieder hervorkrame.
    Trotzdem stelle ich etwas sehr, sehr Seltsames fest: Ich ertappe mich, wie ich mich am Anblick simplen, nassen Grases ergötze. Die Weiden, die ich durchquere, sind so unverschämt grün, dass ich mich fast zu ein paar nassen Schafen stellen möchte. Und die Wege sehen aus wie mit Alufolie tapeziert. Trotz meiner körperlichen Erschöpfung fühle ich auf einmal
eine große Gelassenheit in mir. Mein Verstand muss irgendwann unbemerkt einen Gang runtergeschaltet haben. Dafür präsentiert er mir plötzlich reihenweise Antworten auf Probleme, die ich seit Jahren immer wieder hervorkrame. Ohne dass ich darum gebeten hätte. Nun sehe ich mit großen Augen zu, wie eins nach dem anderen platzt wie eine Immobilienblase. Die Blicke der Nachbarn, wenn ich morgens um zehn mit dem Hund rausgehe? Was soll’s — dafür arbeite ich bis tief in die Nacht. Ein wichtiger Auftraggeber hat mich böse fallenlassen, als es für ihn einmal etwas eng wurde? Egal – bin auch so klargekommen. So Zeug halt. Plötzlich wird mir wieder etwas ganz Zentrales klar: Man wird nicht plötzlich weise , weil man auf dem Jakobsweg unterwegs ist. Es ist nicht so, dass einem auf einmal wer weiß was für tiefschürfende Gedanken aufpoppen, nur weil man mit einer Muschel am Rucksack fröhlich Kapellen besichtigt. Der Job ist ein ganzes Stück härter: Die Ideen, die sich entwickeln, wenn man jeden Tag etliche Kilometer abspult, die gehen tiefer. Berühren einen stärker. Weil man sie sich erarbeitet ! Die wirklich wichtigen Gedanken kommen nicht, weil man endlich freier durchatmen kann! Im Gegenteil! Gerade weil der Kopf von so elementaren Dingen wie Blasen unter dem Fuß, dem Bemühen, vor Müdigkeit nicht umzufallen und der Konzentration auf das Vorwärtskommen abgelenkt ist, kann sich der unbewusste Teil von uns besser um die Dinge kümmern, die sonst mangels Rechenzeit unbearbeitet liegen bleiben …
    Für Überflüssiges bleibt bei so einer Strapaze keine Zeit! Was am Ende eines harten Tages wie heute noch da ist, muss irgendwie wichtig sein! Wer meint, man könne die Welt vom Sofa aus begreifen, glaubt sicher auch, man könne Sport treiben, ohne zu schwitzen. Und noch etwas: Das, was einem nach etlichen Kilometern Hinken aus dem Denkapparat purzelt, fühlt
sich auf eine ganz eigenartige Weise wahr an. So wie eine Skulptur, die man selbst mit blutenden Händen aus Stein gehauen hat, auf eine schwer zu beschreibende Weise »echter« und ernster ist als jede, die man in einem Laden kauft. Plötzlich bemerke ich den Regen nicht mehr. Schon wieder habe ich das Gefühl, etwas Wesentliches verstanden zu haben.
    Um das Maß voll zu machen, platzt gleich noch ein Böller vor meinem inneren Auge: Die letzten Tage hatte ich immer wieder die Befürchtung, dass es irgendwann vorbei sein könnte mit den schönen Dingen, die ich auf dem Weg bisher gelernt habe. Was, so fragte ich mich, wenn irgendwann nichts mehr passiert? Wenn ich am Ende einen Strich ziehe – und es ist nichts darunter? Seit einer Woche freue ich mich auf eine Weise, die ich bislang noch nicht erlebt habe, auf jeden neuen Tag – aber immer mit der leisen Angst im Hinterkopf, dass am Abend vielleicht doch nichts übrig bleibt,

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