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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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beschwert«, heißt es. Dann spreche ich meine aktuelle Gastgeberin noch einmal kurz auf die Sache mit der Heizung an, aber die Zeit hätte ich auch nutzen können, um Papierblumen aus ihren Platzdeckchen zu falten. Anschließend ziehe ich mir die Kapuze tief ins Gesicht und trete in den Regen wie James Cook hinter das Steuerrad seiner Endeavour bei Windstärke Zwölf. Selbst unter dem Vordach der Kneipe fliegt mir die Gischt ins Gesicht. Dann trete ich endgültig in die Sintflut.
    Euskirchen sieht aus, als wäre ein Tsunami hindurchgerollt. Auf dem Weg zum Ortsausgang schwimme ich noch einmal die Fußgängerzone entlang und komme an einem Buchladen vorbei. Ich brauche ein neues Notizbuch. Drinnen lächelt mich unvermittelt ein berühmter Pilgerbruder aus Pappe an; ich bitte eine Verkäuferin, mich daneben zu fotografieren. O. K.: Ich bin unscharf, aber Hape immerhin ist gut getroffen. Auf einem der Nachbartische sehe ich eine Jakobsmuschel liegen, weiß wie ein Büßergewand. Der weitere Weg aus der Stadt ist etwas beschwerlich: Ich muss zunächst einer stark befahrenen Straße folgen, wobei ich darauf achte, auf dem Bürgersteig möglichst weit rechts zu gehen, damit ich von den Flutwellen der vorbeirasenden Wagen nicht fortgespült
werde. Obwohl das mittelfristig vermutlich auch keinen Unterschied machen würde. He: Wie durchgeknallt ist es eigentlich, nasse Klamotten in einem wasserdichten Rucksack durch Sturzbäche von Wasser zu tragen?
    Später verpasse ich wichtige Pilgerwegweiser, weil ich meine Kapuze zu tief ins Gesicht gezogen habe, was mein Martyrium um mindestens zwei Kilometer verlängert. Irgendwann gelange ich trotz allem auf einen Weg, der aussieht, als hätte ihn sich ein deutscher Beamter um halb neun Uhr morgens vor dem ersten Kaffee ausgedacht, so gerade zieht er sich bergauf durch einen Wald. Als ich meinen Wanderstab einmal am langen Arm hängen lasse, läuft mir das Wasser im Schwall aus der Jacke: Ich habe vergessen, die Reißverschlüsse unter den Achseln zuzuziehen. Egal: Am Ende dieses Wegs steht immerhin eine wirklich malerische Ruine – der Rest der sogenannten Hardtburg –, eine der wenigen mittelalterlichen Befestigungen, die es schaffen, auf einer Anhöhe zu stehen und trotzdem Wasserburg zu sein. Dahinter finde ich einen kleinen Unterstand: Pause! O. K. — hätte ich auch unter freiem Himmel machen können: Mein Hemd ist inzwischen so nass, als hätte ich damit im Schlossteich Karpfen gefangen. Als ich etwas später den Wald verlasse, verpasse ich vor lauter Regen das berühmte Hubertus-Kreuz – übrigens nicht das einzige Tagesziel, das zu betrachten ich mir eigentlich fest vorgenommen hatte: Auch an der Hubertus- Kapelle kurz vor Bad Münstereifel schwimme ich eine Weile darauf achtlos vorbei. Das ärgert mich später wirklich, denn hier hätte ich die Spuren meiner vielen tausend Vorgänger buchstäblich ertasten können: Die Kollegen haben hier über die Jahrhunderte etliche Kubikzentimeter Steinmehl aus den Türgewänden gekratzt und dabei tiefe Rillen hinterlassen — das Pulver soll gegen Tollwut helfen.

    Aber jetzt geht es erst einmal wieder abwärts. Das Regenwasser und ich laufen einen Feldweg herab, das Wasser in Strömen, ich in langsamen, quietschenden Schritten. Allmählich macht sich links eine neue Blase bemerkbar – klar: Meine Socken sind nass wie Goldfische. Ich habe mal gelesen, dass sich bei Toten nach ein paar Tagen Verwesung die Haut ablöst, als wäre sie ein Handschuh – irgend so etwas passiert gerade mit meinen Füßen. Dann tauchen Häuser vor mir auf. Meine Hoffnung auf eine Bäckerei oder etwas ähnliches, wo ich mich an irgendetwas Warmem laben kann, wird jedoch enttäuscht: typisches Schlafdorf, es gibt nicht mal eine Tankstelle. Im nächsten und übernächsten Ort finde ich zwar Geschäfte, aber die sind alle zu. Was für ein Inferno! Dafür lerne ich immerhin eine neue, überaus nützliche Funktion meines Wanderstabs kennen: Wenn man ihn waagerecht vor sich hält, die Stahlspitze in Richtung Fahrbahn, überlegen es sich die Autofahrer zweimal, ob sie mich bei ihren Überholmanövern mit dem Außenspiegel streicheln möchten. An einer besonders engen Stelle bremst einer abrupt vor mir ab und zeigt mir einen Vogel. Ich frage mich, wie er an mir hätte vorbeikommen wollen

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