Santiago liegt gleich um die Ecke
Hauskauf oder dem Verticken des
Hotels spannender gewesen; vielleicht hätte er daraus für sich eine Bedeutung oder gar Lehre oder sogar »Berufung« gezogen â wer sich mit dem Gedanken trägt, alles hinzuwerfen, wird jemandem, der genau das vorhat, natürlich gut zuhören. Aber das hier ist eben mein Weg. Esoterik oder Realismus also? Womöglich ist das alles ja nur eine Frage des Blickwinkels. Ob ich den Jakobsweg oder mein Unbewusstes für die Dinge verantwortlich mache, ist mir letztlich egal: Auf beides habe ich ja keinen Einfluss. Aber dass ich mich wegen einer verdammten Blase am Fuà schonen muss und mit einem ganzen Herzen voller vertrockneter Musik ausgerechnet in einem Hotel übernachte, in dem sich ein Stück deutscher Rockgeschichte abgespielt hat â und so knapp eintreffe, dass mir zehn Sekunden später schon niemand mehr aufgemacht hätte: Das ist schon Gänsehaut-pflichtig.
Ich marschiere nicht, ich schwebe! Irgendwann registriere ich allerdings, dass ich schon eine ganze Weile keinen Schatten mehr werfe; es ist heiÃ, aber der Himmel ist grau wie ein unterbelichtetes Schwarz-WeiÃ-Foto. Ich lege einen Zahn zu: Ein Gewitter muss ich mit einem Metallrahmen im Rucksack nicht unbedingt haben. Zum Glück gibt es keine Steigungen zu bewältigen â zum ersten Mal seit Tagen komme ich wirklich reibungslos voran; der Marmorboden im Kölner Dom ist welliger als das Höhenprofil meiner heutigen Etappe. Dafür ist der Weg allerdings etwas eintönig â die ganze Zeit über geht es stur links an der Erft lang, die hier in ein ziemlich enges Bett gezwängt ist. Ab und zu überrascht sie mich trotzdem durch ganz malerische Biegungen, auÃerdem ist das Flüsschen hie und da gesäumt von blühenden Bäumen, Feldern und Wiesen. Das Gras um mich sieht aus, als wäre es eben erst aus einem Farbkonzentrat-Kanister gerieselt. Am Horizont sehe ich allerdings schon die
Berge, durch die ich in den nächsten Tagen wandern werde. Da kommt mir ein witziger Gedanke: » Berge kommen einem entgegen, wenn man auf sie zugeht. « Ich habe keine Ahnung, was dieser Satz mir sagen will, aber ich finde ihn gut und schreibe ihn auf. Dann feiere ich ein kleines Jubiläum: Mein GPS-Empfänger zählt den zweihundertsten gelaufenen Kilometer herunter. Diesmal passe ich den Punkt genau ab.
Euskirchen ist ganz nett. Langgezogene FuÃgängerzone, ausnehmend hübscher Marktplatz. Der Himmel ist nach wie vor grau wie ein Brief vom Finanzamt, aber es regnet immer noch nicht. Dafür hat sich die Natur mit dem vielen Wasser in der Luft was anderes einfallen lassen: Es ist unglaublich schwül geworden. Ich frage mich, warum ich mir mein Trinkwasser nicht gleich über das Hemd schütte. Das Gemeindebüro, in dem mein Stempel auf mich wartet, ist, wie ich einem gelben Zettel entnehmen darf, in der Ferienzeit nachmittags geschlossen. Also sehe ich mir die Kirche gegenüber ausnahmsweise mal etwas näher an. Das Gotteshaus ist ziemlich alt und grenzt noch an ein Stück der alten Stadtmauer. Sie ist über die Jahrhunderte oft von Jakobspilgern aufgesucht worden, darum soll es darin diverse St.-Jakob-Darstellungen geben und sogar einen Altar, der dem Heiligen mal gewidmet war. Ich finde nichts davon. Aber irgendwie bin ich nicht recht bei der Sache. Trotzdem beginne ich, den Geruch von Kirchen zu mögen.
Berge kommen einem entgegen, wenn man auf sie zugeht.
AnschlieÃend sitze ich eine lockere Stunde und ein paar Extraminuten in einem Café unter freiem Himmel ab, fülle meinen Magen mit Spaghetti-Eis sowie einem völlig totgerösteten Cappuccino und die Luft über mir mit lockeren Gedanken zu diesem und jenem. Ein paar Hundert Meter entfernt entdecke ich eine düstere
Kneipe, die Zimmer zu einem annehmbaren Preis anbietet. Die Wirtin ist eine dürre Person, die mich an einen Pfirsichkern erinnert: klein und hart. Und mein Refugium für die Nacht ist eines von der Sorte, die einem in der Erinnerung dunkelbraun erscheinen, obwohl es eigentlich hellblau gestrichen ist.
Im Flur vor meiner Kammer hängt ein Ãlgemälde, das ein weinendes Mädchen zeigt. Vielleicht hat es mal ein paar Wochen hier wohnen müssen. Das Bad, das ich mir mit zwei potenziellen Etagen-Mitbewohnern teilen muss, ist in einem proktologischen Beinaheschwarz gekachelt; eine Dusche gibt es nicht, dafür eine Badewanne, allerdings ohne
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