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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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leuchtet inzwischen orange wie ein Sonnenuntergang in Nepal; davor betrachte ich einen Bronzepilger, der für immer vor der Kirche festgelötet ist, aber zufrieden guckt. Irgendwie bin ich stolz, denn die Skulptur ist ja auch mir gewidmet! Von einer nahe gelegenen Frittenbude aus beobachte ich später zwei Spaziergänger, die vor der Basilika auf und ab gehen wie ich, an der Tür rütteln wie ich und ein Foto von meinem Bronze-Kollegen machen wie ich: die Schickimicki-Wanderer aus der Herberge! He, vielleicht auch Pilger? Wie ähnlich wir uns trotz allem doch sind … Und das ist nicht das letzte Mal, dass ich an diesem Abend schmunzeln muss: Als ich die Bilder des Tages durchsehe, fällt mir der seltsame Baum an meinem Cruz de Ferro wieder auf. Es ist ein bisschen so wie in »Das Omen«, wo jemand auf einem Negativ Dinge entdeckt, die im Moment der Aufnahme noch nicht da waren: Bei meinem »Baum« handelt es sich um einen Stamm, der von einem Blitz getroffen oder aus sonst einem Grund abgestorben ist. Aber er ist noch nicht ganz tot: Aus dem verdorrten Holz schlagen neue Triebe. »Das bin ja ich!«, denke ich.

Eine Hausaufgabe, eine Krone und ein Thron
Mittwoch, 22. April – Prüm bis Waxweiler
    Monika, Christine und Doris sind etwa um die 50, tragen kurze Haare, bequeme Klamotten – und sehen auch insgesamt nicht so aus, als wären Schuhgeschäfte ihr Lebensinhalt. Und: Sie löchern mich so sehr, dass ich kaum dazu komme, mir meine Brötchen zu schmieren. Wahnsinn: Noch vor wenigen Tagen hätte mich die Vorstellung, ausgerechnet zum Frühstück mit wildfremden Nichtpilgern den Tisch teilen zu müssen, zu einer Jahrespackung Betablocker greifen lassen. Muss die Einsamkeit der vergangenen Tage gewesen sein: Jetzt rede ich wie einer dieser aufdringlichen Typen, die im Shopping-TV versuchen, einsamen alten Damen Marylin-Manson-Porzellanpuppen zu verkaufen.
    Noch seltsamer: Ich kann sogar zuhören . Mindestens so gut wie der Lieblingsteddy eines GZSZ-Fangirls! Mann, wie lange hatte ich dazu keine Geduld mehr! Aber wer zuhört, erfährt mehr: Schnell kriege ich zum Beispiel heraus, dass auch Monika in die Kategorie der flüggen Pilgervögel gehört – sie hört mit Augen wie Christbaumkugeln zu, während ich ein paar Geschichten aus meinem wachsenden Jakobsweg-Fundus vor ihr und ihren Freundinnen ausbreite. An manchen Stellen stutze ich selbst: Diese Sache in Altenberg – war das wirklich erst vor zehn Tagen? Dieser Wald, in dem ich das Riechen neu gelernt habe – wo war der nochmal? Irgendwann kommt auch die Story von meiner Bankenkrise dran. Jawohl: Mir ist das eben wichtig, schließlich habe ich nur eine für dieses warme Wetter geeignete Hose dabei, mit der
will ich mich nicht unbedingt in eine Schnecke setzen. Da steht Monika plötzlich auf; nach einer Weile kommt sie mit einem dieser kleinen silbernen Isolierkissen zurück, die aussehen wie eine Kreuzung aus Topflappen und Alufolie. Es ist ganz neu. Sie will es mir schenken. Ich bin sehr gerührt. Bin doch kein Bettelmönch! Dazu reicht sie mir eine kleine Tupperdose, damit meine Brötchen im Rucksack nicht mehr zerquetscht werden – komisch: Habe ich etwa auch davon erzählt? Schade, dass wir nicht noch weiter quatschen können, aber ich habe heute wieder 24 Kilometer vor mir – schon der Aufstieg von Prüm nach Rommersheim soll was für Reinhold Messner-Fans sein. Für harte Messner-Fans. Eine Sache liegt mir allerdings noch am Herzen, und wenn ich noch so verschroben wirke: Ich habe superschlecht geschlafen, weil ich die ganze Nacht über Angst hatte, dass meine Sachen schon wieder nass bleiben. »Mit Heizung wär’s perfekt gewesen«, sage ich dem Mann hinterm Tresen – einem sportlichen Mittvierziger mit Brille und Dreitagebart, Typ Vertrauenslehrer. »Ich meine, wie soll man denn seine Klamotten trocken kriegen?« »Indem Sie die Wäschetrockner im Waschraum verwenden«, sagt er, und beschreibt mir lächelnd den Weg.
    Vor der Tür warten meine drei neuen Freundinnen schon auf mich. Christine drückt mir etwas verstohlen einen kleinen Karabiner-Kuli in die Hand, den sie offenbar extra an der Rezeption gekauft hat. Ist mir das peinlich! Aber was für großherzige Frauen sind das! Ob sie erwarten, dass ich sie segne? Ich greife mir meinen Wanderstab und verabschiede mich. Monika begleitet mich allerdings noch

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