Santiago liegt gleich um die Ecke
Weitere gröÃere Steigungen bleiben immerhin aus; irgendwann biegt der Weg in einen Wald ein, in dem ich einem Baumlehrpfad folgen darf.
Ich lasse mir viel Zeit und sehe mir ein Pfaffenhütchen ( Eunymus europaeus ) ebenso ausführlich an wie die gemeine Esche ( Fraxinus excelsior ) und alles andere, was hier mit Schildchen versehen ist. Dabei fällt mir irgendwann auf: Mensch, wie weit ist die Natur hier hinter dem Rheinland zurück! Dort war der Frühling schon viel weiter. Hier wickeln sich die Blätter gerade erst aus ihren Knospen. Was für ein Privileg: Ich erlebe die Jahreszeit, die ich am liebsten mag, als Dauerzustand! Ich bringe den Frühling mit, wo immer ich hingehe! Und noch was: Irgendwie habe ich plötzlich das Gefühl, dass nicht nur die StraÃe, sondern auch die Landschaft ein Teil von mir geworden ist. An den ersten Tagen meiner Wanderung habe ich mir nach schönen Bäumen noch den Hals verrenkt â sofern mein verholzter Rücken das zulieÃ. Inzwischen wehen die Anblicke, die sich mir sekündlich bieten, durch mich durch wie Wind durch einen leichten Vorhang. Schade nur, dass ich dieses Gefühl nicht festhalten kann: Wenn ich mich darauf konzentriere, ist es weg und ich fange wieder an, Dinge anzustarren, als ob ich sie dadurch mitnehmen könnte. Na ja, kommt ja vielleicht noch.
Mit Gedanken klappt das dagegen schon besser. Ich staune, wie leicht es mir inzwischen fällt, meinen Verstand auf immer neue Dinge zu fokussieren, so als würde ich eine Taschenlampe nacheinander auf
verschiedene Dinge richten. Irgendwie habe ich früher immer den Lichtschalter gesucht, jetzt reicht mir ein kleines Knicklicht, um alles nacheinander zu beleuchten: Die Dinge stehen plötzlich nicht mehr in Konkurrenz zueinander â und ich habe die Geduld, ihnen jeweils die Zeit zu widmen, die sie verdienen. Und irgendwie wollen sie auch niemals mehr von mir, als ich geben kann.
Nach einer Weile komme ich an einem frisch abgesägten Baumstumpf vorbei, der die Form eines Stuhls mit einer beeindruckenden Lehne hat. Ich gehe daran vorbei. Nach etwa 200 Metern wende ich. Setze den Rucksack ab, winde mir eine Krone aus jungen Buchenzweigen, binde mir meine Muschel vor die Brust und setze mich mit dem Wanderstab in der einen und einem Apfel (aus Kronenburg!) in der anderen Hand auf den Stumpf. Und bleibe eine Weile so sitzen, bis es mir zu peinlich wird, obwohl ja niemand vorbeikommen kann â ist schlieÃlich die Eifel. Egal! Nein, ich habe keine Ahnung, wozu das nun wieder gut gewesen sein soll. Aber man muss ja auch nicht alles verstehen. Das ist meine Pilgerreise, da kann ich machen, was ich will!
An die Stelle der sanften Hügel der letzten Tage treten allmählich steile Hänge und schroffe Felswände. Ein paar Kilometer nach dem Schauplatz meiner Krönungszeremonie ist ein Dolomit-Riesentrumm herausgebrochen und mitten auf den Weg gekracht.
Einen kleinen Baum, der davon umgerissen wurde, hat man weggesägt, den Felsen hat man liegen gelassen. Wie im richtigen Leben, denke ich: Was zu schwer ist, um es wegzuräumen, wird eben Teil der Landschaft. Nach einer Weile komme ich durch einen Ort namens Schönfleck. Keine Ahnung, wer dem Städtchen diesen Namen gegeben hat â mir gefällt es überhaupt nicht. Ständig rasen Lkw durch die engen SträÃchen â in Griffweite und einem Tempo, als würden sie von tieffliegenden UFOs verfolgt. Trotzdem muss ich immer wieder vor ihre Kühler wanken, weil die halbe Stadt sich einen Spaà daraus macht, mir Legionen von Mülltonnen und parkenden Autos in den Weg zu stellen. Sorry, aber das schönste an Schönfleck ist ein oranges Hinweisschild: Luxemburg und Trier sind nicht mehr weit! Trotz dieser an sich erfrischenden Erkenntnis schleppe ich mich inzwischen voran wie ein 28-Tonner voller Mohn mit vier platten Reifen und darf mich zu allem Ãbel nach einem schmalen Pfad, der mich unter Abfeiern einer atemberaubenden Kulisse über eine glitzernde Wiese ins Tal führt, ausgerechnet unter einer Autobahntrasse auf den nächsten Gipfel hocharbeiten. Zu Anfang war sie so weit über mir wie der Mond in einer klaren Winternacht, am Ende blicke ich winzigen Truckern auf dem Rastplatz »Prümer Land« locker 100 Meter unter mir beim Auswickeln ihrer Brote zu. Ich glaube inzwischen allen Ernstes, dass ich in den letzen zwei Wochen mehr SchnellstraÃen als Flüsse
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