Santiago liegt gleich um die Ecke
überquert habe!
Langsam geht mein Vorhang zu â viel mehr ist heute nicht drin. Muss aber, denn mein Hotel ist ausgebucht, wie ich zwischenzeitlich telefonisch in Erfahrung gebracht habe â das letzte Zimmer ist erst vor Minuten an ein Pilgerpärchen gegangen. Aarrrgh: Warum habe ich denen in Prüm nichts in den Kaffee
getan? Logisch, dass die beiden anderen Hotels in Waxweiler entweder Betriebsferien oder Ruhetag haben. Egal â weiter. Obâs an meinem Zustand liegt: Am Rande meines Weges fallen mir jetzt vermehrt Kruzifixe und Grabmale aus arg verwittertem Stein auf; daneben hie und da Ruhebänke, an denen ich aber stur vorbeilaufe â erst will ich die Unterkunftsfrage für heute geklärt wissen! Allzu weit ist es zum Glück nicht mehr: Etwa drei Kilometer vor meinem Ziel darf ich die LandstraÃe verlassen und bekomme wieder einen eigenen Pfad. »Panoramaweg« steht auf den Hinweisschildchen. Holla: Der Name ist mal Programm! Leider wird der Süden durch dichten Bewuchs verdeckt, aber das, was der Norden da vor mir ausbreitet, könnte tatsächlich zehn Jahre in einem Kellerbüro ohne Fenster wiedergutmachen! Ein paar Hundert Meter später fällt mir plötzlich auf, dass ich soeben mit mir selbst gesprochen habe.
Was zu schwer ist, um es wegzuräumen, wird Teil der Landschaft: wie im richtigen Leben.
Kurz hinter der Sandstein-Madonna von Waxweiler, die von ihrer Säule aus sehr relaxt ins Tal blickt, mache ich mich schlieÃlich an den Abstieg in den Ort â und bin wieder einmal froh, dass ich meinen Wanderstab dabeihabe: Meine Knie fühlen sich an, als hätte darin jemand ein Schmirgelpapier-Testlabor eingerichtet, meine Beine wie falsch eingehängt. Nur mein Stab bewahrt mich davor, auf der Stelle umzufallen und bergab zu kullern. Aber die Mühe lohnt: Es gibt einen Campingplatz! O. K.: die Rezeption hat natürlich schon zu. Dafür höre ich am Notfalltelefon Worte, die ich gerne bei meinem Einzug ins Paradies noch einmal vernehmen möchte: »Suchen Sie sich einen Platz aus, abrechnen können wir dann morgen«, sagt ein Typ mit holländischem Akzent am anderen Ende der Leitung. Ich versickere fast im Boden vor
Glück. Ach ja â ein Supermarkt! Gibtâs hier sowas? Kein Problem: Treppe hoch, dann rechts, die StraÃe lang, fertig! Der Laden hat bis sieben auf. Es ist 18 Uhr fünfundvierzig. Ich werfe meinen Rucksack an den Caravan eines Spaghetti-essenden holländischen Pärchens und fliege los. O. K.: Die Beschreibung war nicht ganz falsch. Hilfreich wäre aber gewesen, wenn ich auch von den Kilometern erfahren hätte, die im Ausdruck »die StraÃe lang« codiert waren.
Ich fühle mich wie in einem dieser Alpträume, in denen man rennt und rennt und trotzdem nicht ankommt. Zum Thema Alptraum passt auch: Die einzigen Menschen, die ich treffe, sind eine treppenfegende Hausfrau, die mir immerhin die Richtung bestätigt, sowie das Pilgerpärchen aus Prüm, das, wahrscheinlich nach einem Nickerchen in meinem Hotelzimmer, das örtliche Gotteshaus besichtigt. Beide sehen aus, als wären sie erst vor Minuten frisch geduscht in ihre brandneuen Outdoor-Sachen gestiegen, die ihnen von lächelnden Bediensteten gereicht wurden. Ich dagegen rieche sehr wahrscheinlich nach nassem Dachs.
Noch fünf Minuten! Keine Zeit! Ich hetze vorbei und nuschele: »Aha, die anderen Pilger!« »Aha, der Herr Albus«, ruft der Kollege, während er sich mit Kennermine eine Skulptur auf dem Kirchplatz ansieht, als wolle er sie gleich kaufen. Nanu? Woher kennt er meinen Namen? Egal â weiter! So schnell war ich den ganzen Tag nicht unterwegs! Wie weit noch? Wie schmecken wohl holländische Spaghetti? Ob ich zur Not aus dem Bach neben meinem Zeltplatz trinken kann? Eine Minute vor sieben erreiche ich den Edeka. Hurra! Keine Fata Morgana! Es sind sogar Menschen drin! Dann sehe ich: Oje â hier ist eine schnelle Entscheidung gefragt. Getränke oder Essen â für beides
ist die Zeit zu knapp. Es gibt nämlich einen separaten Getränkemarkt. Ich stürze hindurch wie ein Meteorit im freien Fall durch die Atmosphäre und erreiche die Kasse um genau 38 Sekunden nach Sieben mit einem Arm voller Getränkeflaschen und einer Tüte Chips aus dem Impulswarenständer. Die Kassiererin dort ist sichtlich sauer, dass sie wegen mir eine Ãberminute machen muss. Ich entschuldige mich. Sie
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