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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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Irgendjemand hat ein Kein Winterdienst -Schild vor einen meiner Muschelhinweise geschraubt – bei schönstem Frühlingswetter und ausgerechnet an einer Stelle, wo der Pfad der Tugend rechter Hand steil bergauf geht und jeder halbwegs vernünftige Pilger aus gutem Grund geradeaus weiterläuft. Dafür wird der Weg allmählich immer illustrer: Hier und da habe ich das Gefühl, im Vorbeigehen kleine Örtchen pflücken zu können wie Äpfel; dann wieder geht es über Waldwege, auf denen ich fast von Kiefernduft gebeizt werde. In einem Örtchen namens Ormont finde ich eine Tankstelle – stimmt, die hatte meine Bedienung heute morgen erwähnt! »Die dürfen Sie sich aber nicht so vorstellen wie in Prüm«, hatte sie gesagt, und Prüm ausgesprochen, als meine sie Los Angeles. Ich sehe genau hin: An dem Gebäude stehen wirklich nur Zapfsäulen! Nichts deutet darauf hin, dass es darin mehr gibt als Ölkanister. Ich frage gar nicht erst nach einer Flasche Cola. Danach darf ich wieder ein paar Hundert Meter einer Landstraße folgen. Mittlerweile ist es mir egal, ob ich meinen Wanderstab über Waldwege oder Asphalt klickern lasse.
    Aber plötzlich geschieht wieder etwas Seltsames: Aus heiterem Himmel habe ich das eigenartige Gefühl, dass ich hier zu Hause bin. Nicht in Ormont. Sondern auf dieser Straße . Überhaupt: Auf der Straße . Unterwegs! Von einer Sekunde auf die andere! Dabei hat sich äußerlich überhaupt nichts geändert. Es ist eher, als hätten sich die Dinge plötzlich umgedreht, als hätte
mich jemand angerempelt und mir dabei heimlich Nord- und Südpol vertauscht. He – was ist eigentlich normal? Am Schreibtisch sitzen oder durch die Gegend wandern? Habe ich wirklich mal Stunden damit verbracht, in einem geschlossenen Raum vor einem Bildschirm zu hocken? Und noch etwas lässt mich beinahe auf der Stelle hüpfen, als ich es kurz darauf herauskriege: Meine Gedanken und ich, wir gleiten seit einiger Zeit sanft und schmerzfrei dahin! Dieses Gefühl der Entzündung, das mein Denken noch vor Wochen begleitet hat, als gehöre es zu mir wie Gips zu einem gebrochenen Bein, ist weg. Ganz plötzlich ganz weg. So beiläufig, als hätte ich einen Knopf verloren. Wie oft hatte ich mir noch vor Wochen abends völlig erschlagen eine Flasche Rotwein geköpft und mir gewünscht, dass es in mir bitte nicht mehr denken möge, bitte. Ich bleibe ein paar Sekunden stehen. Habe auf einmal das Gefühl, dass meine Gedanken bis gestern wie Rillen in einer alten Schallplatte waren: Irgendwann mal frische Musik, mit der Zeit aber immer breiter geworden, bis am Ende nur noch ein schweres Rumpeln übrig war. Irgendetwas hat die Nadel auf eine andere Platte gesetzt. Ich atme tief durch. Genau da wollte ich hin. Einen Zustand erreichen, in dem Denken nicht mehr so schwer ist wie ein Klotz schwarzen Marmors, den man durch Sand vor sich herschieben muss. Mann: Zwei Wochen jeden Tag 20 Kilometer laufen – das genügt? Wirklich? Jedenfalls bin ich da.
    Jetzt komme ich voran wie ein Formel-1-Bolide mit besonders klebrigen Reifen. O. K.: dass es heute ein gutes Stück leichter geht als gestern, liegt sehr wahrscheinlich auch daran, dass ich mir kurz hinter Kronenburgerhütte etwas entnervt die Riemen und Schnallen meines Rucksacks noch einmal etwas genauer angesehen habe. Dabei war ich auf die Idee
gekommen, den Hüftgurt ein ganzes Stück enger zu ziehen. Jetzt liegt der größte Teil des Gewichts auf den dort zu verortenden Knochen auf – wobei ich das Ding allerdings verdammt eng schnallen musste, weil die Hüfte bei mir ziemlich gut getarnt ist. Bislang hatte ich den Gurt nur genutzt, um die Ladung zu stabilisieren – und manchmal sogar ganz zu schließen vergessen. Meine Schultern singen ein Hosianna nach dem anderen! Ich kann sogar meinen Hals wieder bewegen! Und den Hüften ist’s egal, schließlich kommt die Last am Ende sowieso da an … Mein Gott, wie blöd kann man sein! Gestatten: Pilger 3.0! O. K.: 2.1. Langsam wird’s allerdings Zeit für eine Rast. Nur: weit und breit keine Bank in Sicht.
    Nach einer Weile sehe ich immerhin einen Hochsitz. Ob ich da vielleicht …? Sieht bequem aus … Aber wenn ich auf dem Weg nach oben mit dem Rucksack das Gleichgewicht verliere? Das ist schließlich die Eifel … Hier ist es so einsam, dass meine Mumie garantiert keine eigene

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