Santiago liegt gleich um die Ecke
Vitrine in einem Heimatmuseum bekäme, wenn mich in 200 Jahren doch noch jemand findet; man würde sie einfach zu denen der anderen Wanderer legen, die sich über die Jahrzehnte hier verirrt haben. Aber seltsam: Als hätte jemand mein Jammern erhört, taucht nach ein paar Hundert Metern plötzlich eine Art Hochsitz zu ebener Erde auf. Das Ding ist aus Nadelhölzern zusammengenagelt und beherbergt wie eine Riesenrad-Gondel zwei Sitzflächen, die mit dickem Schaumstoff überzogen sind. Ich lehne den Rucksack auÃen an und klettere umständlich ins Innere der Konstruktion. Später stelle ich fest, dass ich nur einen Ast hätte hochschieben müssen. Egal, ich bin drin. Herrlich! Schuhe aus, FüÃe ausstrecken! Ich gönne mir einen meiner beiden Ãpfel â niemand hat jemals einen leckereren verspeist! Um mich herum nur der sanfte Wind, Vogelstimmen und sonst nichts. Gar nichts.
Allmählich nähere ich mich einem Abschnitt meiner Wanderung, mit dem ich mich schon eine ganze Weile beschäftige â genau genommen, seit ich die Route vor Wochen mit einer Topo-Karte am Computer geplant hatte: In wenigen Minuten werde ich den höchsten Punkt meiner Reise erreichen. Gestatten: das Cruz de Ferro des Jakobswegs Dortmund-Trier. Auf dem »Gipfel« des spanischen Jakobswegs steht bekanntlich ein eisernes Kreuz, zu dessen FüÃen jeder Pilger irgendetwas ablegt, das ihn belastet â vorzugsweise in Form von Steinen, die man von zu Hause mitbringt. Mit den Jahren ist dort eine beachtliche Halde herrenloser Sorgen herangewachsen. Das spanische Original steht in etwa 1.500 Meter Höhe, der Zenit meiner Reise kommt dagegen »nur« auf etwa 675 Meter. Von Steigungen habe ich nach den letzten Tagen eh die Nase voll, darum komme ich gut damit klar, dass mein Weg sich heute auf eher charmante, unaufdringliche Weise bergauf schleicht.
Als ich mich endlich der Stelle nähere, die mir die Karte angezeigt hatte, stehe ich allerdings nicht wie erwartet vor einem kargen Gipfel, sondern blicke auf eine ganz, ganz mild gerundete Kuppe, hinter der es ebenso vorsichtig wieder bergab geht, als wäre der »Höhepunkt« meiner Wanderung inkognito hier. Aussicht gibt es auch so gut wie keine: Ãberall steht dichter Fichtenwald im Weg. Um den Eindruck rund zu machen, scheint auf der anderen StraÃenseite eine Art Militärgelände zu sein â ich fühle mich die ganze Zeit beobachtet. Egal, der Entschluss ist gefasst, ich muss hier etwas zurücklassen. Blöderweise habe ich den Stein, den ich mir vor meinem Aufbruch zurechtgelegt hatte â eigentlich ein Stückchen Schlacke von einer Halde ganz in der Nähe meiner Wohnung â zu Hause liegen gelassen. Dafür ist mir längst eine bessere Idee gekommen. Denn was habe ich denn schon für Sorgen â zumindest im Vergleich zu Leuten, die
Krebs haben oder sonst ein richtig fettes Päckchen tragen müssen? Das einzige, was mich gelegentlich drückt, sind Geldprobleme. Also, habe ich entschieden, werde ich an meinem Cruz de Ferro einen symbolischen Euro ablegen! Habe extra darauf geachtet, dass ich einen dabei habe. Allerdings: Je näher ich der Kuppe komme, desto schnöder kommt mir das vor. Ein Euro â du meine Güte, was für ein Opfer ! Das wird ja richtig weh tun! Als mein GPS anzeigt, dass ich mein Gipfelchen erreicht habe, schlage ich mich ein paar Meter ins Gebüsch. Ich finde einen schönen, flachen, groÃen, aber nicht allzu schweren Stein, für mein Vorhaben ideal geeignet. Denn ich weià jetzt, was ich tun muss: Ich werde einfach den kompletten Inhalt meines Portemonnaies hier lassen. Zumindest den des Münzfachs: Papiergeld gibt es ja noch nicht soo lange, Kreditkarten erst recht nicht. Immerhin habe ich keine Ahnung, wie viel Change ich bei mir habe, das macht die Sache spannend ⦠Ich lasse die Münzen unter dem Felschen verschwinden. O. K., im Endeffekt war es doch nicht viel mehr als der symbolische Euro, aber der Wille zählt! Ich verharre noch ein wenig und warte ab, ob etwas passiert. Aber ich bekomme keinen Heiligenschein, keine tiefe Stimme donnert, kein Blitz fährt herab; auf dem Weg zurück zur StraÃe bemerke ich bloà einen Baum, der mich an ein Caspar-David-Friedrich-Gemälde erinnert. Irgendwie gefällt er mir. Ich mache ein Foto und trete wieder auf meinen Pfad.
Ganz so unbeschwert wie ich dachte, geht es nach der Aktion
Weitere Kostenlose Bücher