Santiago liegt gleich um die Ecke
da aber einen schönen Friedensstifter«, sagt ein alter Herr neben mir, und deutet auf meinen Wanderstab. »Und die haben Ihnen wirklich Kurtaxe abgenommen?«, stammelt die junge Frau hinterm Tresen. Von ihr darf ich dann erfahren, dass ich im Ort für weniger Geld
sogar ein Privatzimmer bekommen hätte, mit Frühstück, dafür ohne Frostbeulen, wenn ich nur rechtzeitig angerufen hätte! Egal â gibt es eben einen Neuzugang in der Pilgervernatzer-Hölle. Dann wird es den anderen da nicht zu langweilig. Und Frühstück? Ganz vergessen ⦠Inzwischen ist die Stadt wieder bewohnt; vor der Brottheke bei Edeka darf ich mich sogar in eine kleine Schlange einreihen. Ich schenke der Frau vor mir meine Tupperdose â das Ding nimmt im Rucksack mehr Platz weg als die Tüte mit den Brötchen. Sie werden auch plattgedrückt schmecken; ich hoffe, dass Monika dafür Verständnis hat. Die junge Frau hinter der Brottheke geht nach hinten, um die Dose zu spülen, damit die neue Besitzerin sie gleich mitnehmen kann.
Raaah â bergauf. War ja klar! So langsam habe ich die Nase voll von diesem ständigen Auf und Ab. Von wegen: »das gehört dazu, wenn man vorankommen will«! Nach Mettendorf, meinem heutigen Tagesziel, zieht mich sowieso nix. Das war jetzt die zweite Nacht, die ich geschlafen habe wie Dracula in einer Sonnenbank! Meine Schritte sind schon jetzt langsamer als träge Hunde in der mexikanischen Mittagssonne. Nach ein paar Hundert Metern fällt der Hammer: Ich beschlieÃe, irgendwo auf halbem Wege eine Ãbernachtung zwischenzuschieben. Von wegen Pilger 2.1 ⦠Meinetwegen Lusche 7.6 ! Neuerburg â klingt gut, auÃerdem sollen das gerade mal 16 Kilometer mit mittlerem Schwierigkeitsgrad sein. Ich beiÃe jeden einzelnen Zahn zusammen, winde mich um meinen Pilgerstab wie Efeu um eine Eiche und stapfe voran.
Aaarrrgh â wieder eine Abzweigung verpasst! Diesmal merke ich es obendrein sehr spät: Ein Tribut an die vergangenen Nächte? Darf mich geschätzte 2.000
Meter bergauf schleppen, um den Fehler wieder gut zu machen â um dann vor einem Pfad zu stehen, der noch steiler ist als alles, was ich heute bereits hatte. Oben angekommen, röchele ich, als wäre ich mit einer Nasenklammer auf den Mount Everest gestiegen. Uuund weiter: Auf, ab, auf, ab, auf, ab â und auf jedem Gipfel werde ich zum Dank von einem schneidenden Wind schockgefrostet. Irgendwo finde ich ein verlassenes Schild, das für irgendetwas, sechs Euro Eintritt verlangt â vielleicht für die Aussicht? Die gönne ich mir auch so: Endlose Wiesen voller Löwenzahn und tiefgrün schwingende Felder, für die sich irgendjemand an Mozarts Notenfundus vergriffen haben muss.
Ich treffe auf Wegkreuze aus Sandstein; in irgendeinem Vorgarten hat sogar jemand einen Pilgerstab in den Boden gesteckt und eine Jakobsmuschel drangehängt. Ich halte meinen daneben â sie sind etwa gleich groÃ. Ich streiche mit der Hand über den anderen Stab und versuche mir vorzustellen, wie weit er gekommen ist. Ob ich mal klingeln soll? Egal â weiter! Nur noch ans Ziel ⦠Irgendwann habe ich gar kein Auge mehr für die Umgebung. Selbst zwei Rehe, die mich neugierig anglotzen und dann wegrennen, sind mir scheiÃegal. Kurz vor einer weiteren Anhöhe, es sind noch sieben Kilometer bis nach Neuerburg, schimmert mir durch die Bäume ein schiefergedecktes Dach entgegen. Ein Ausflugslokal? Vielleicht eins, das ausnahmsweise mal auf hat? Obwohl Donnerstag ist? Ob die vielleicht Apfelschorle haben? Apfelkuchen gar? Ich lege einen Zahn zu. Als ich ankomme, bin ich allerdings baff, als hätte mich eben der Dalai Lama geohrfeigt. Wo das Haus stehen müsste, ist: Nichts . Ich gehe den Weg hinauf und hinab. Weit und breit nur Bäume und ein Stapel verrottendes Holz. Mein Gott, muss ich mir jetzt Sorgen machen?
Aus irgendeinem Grund muss ich plötzlich an die Bibel denken. Wie war das nochmal mit Sodom und Gomorrha? »Wenn ich in Sodom fünfzig Gerechte in der Stadt finde, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben«, sagt der HERR. O. K., 45 reichen dann auch. 30, SEINetwegen. 20. Gutgutgut. Zehn â aber wirklich letztes Wort jetzt ⦠Irgendwie verraucht allmählich auch mein Zorn. Die Bäckereifachverkäuferin hatte doch ihr sonnigstes Lächeln für mich ausgepackt, als sie mir meine Brötchen geschmiert hatte, oder?
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