Santiago liegt gleich um die Ecke
Allmählich schäme ich mich, dass ich mich wegen dieser läppischen Handvoll Euro so aufgeregt habe. Den Test habe ich jedenfalls nicht bestanden.
Ein paar Meter, nachdem ich aus dem Zauberwald herausgetreten bin, schlängelt sich ein langer Weg durch eine leicht abschüssige, offene Landschaft voller Felder und Wiesen, die vor frischem Chlorophyll fast platzen. Gleich zwei Schildern zufolge betrete ich jetzt den Deutsch-Luxemburgischen Nationalpark . In gröÃerer Entfernung stehen blühende Wälder; der Teil vor mir sieht allerdings aus, als hätte ein fröhlicher Riese im Vorbeigehen alles gepflückt, was gröÃer ist als ein Gerstenhalm. Das Bild erinnert mich an Fotos, die ich von der nordspanischen Meseta gesehen habe â nur dass die sich über 100 Kilometer hinzieht, meine hier dagegen nur über etwa zwei: Kein Baum weit und breit â bis auf einen, keine zehn Jahre alt, der in einiger Entfernung direkt am Wegesrand vor sich hinwächst. Er wird für die nächsten Minuten mein
Fixpunkt, es macht mir SpaÃ, mich ihm Schritt für Schritt zu nähern. Als ich ihn erreiche, fühle ich mich auf seltsame Weise mit ihm verbunden und klopfe mit dem Pilgerstab gegen seinen Stamm.
Neuerburg! O. K., erstmal nur das Ortsschild â dahinter geht es noch einmal fast zwei Kilometer über grauenhaft serpentinige StraÃen durch ein Wohnviertel abwärts, bis ich mich an Super- und Baumärkten vorbei allmählich in Richtung Stadtzentrum vorarbeite. Trotzdem habe ich jetzt Sprungfedern unter den Schuhen: Ich werde doch noch in einer Burg schlafen! Auch ohne Buchenkrone! Ich werde sogar der einzige Gast sein! »Sie kriegen das schönste Zimmer, das wir haben«, hatte die Frau von der Pilgerherberge am Telefon gesagt. »Das Gewölbezimmer . Gehört zum ältesten Teil der Burg« â und kostet obendrein deutlich weniger als mein Caravanplatz in Waxweiler. Einen Haken hat die Sache allerdings: Ich muss noch einmal einen Berg hoch. Natürlich thront die Burg hoch über der Stadt â ob irgendjemand meinen Stab gegen einen Rollator tauschen möchte? Egal: Je näher ich dem Stadtkern komme, desto besser gefällt mir das Ãrtchen! Ãber den SträÃchen flattern Wimpelchen, Leute sitzen in StraÃencafés und schwatzen in der milden Luft. Die letzten 100 Meter führen über nackten Fels an einer alten Burgmauer vorbei, die nach Belagerung und Schlachtgebrüll aussieht. Und dann: bin ich plötzlich in einem Pippi-Langstrumpf-Film! Was für eine geniale Kulisse! Pappmaschee-Ritter, überall Blumentöpfe, manche davon mit Schleifchen verziert, eine riesige Grillecke, die nach gemeinsamem Heino-Lieder-Singen schreit, Gewölbe voller rustikaler Holztische, die sich bei mitternächtlichen Piratengelagen bestimmt unter gegrillten Hühnchen und gebratenen Schweinshaxen biegen. Die Neuerburg ist nicht nur Pilgerherberge, sondern
zugleich »Jugendbildungs- und Freizeitstätte«: Muss das toll sein, hier als Kind ein paar Tage verbringen zu dürfen!
Nach ein paar Minuten im Haupthaus finde ich auch mein »Gewölbezimmer« â ein Kämmerchen, in dem ich zwei Betten, einen Schrank, ein Waschbecken und sogar einen Tisch mit zwei matratzenweichen Sesseln finde. Was für ein Luxus! Sogar die Heizung funktioniert! Im Schlussstein des Gewölbes über mir ist ein kleines blau-golden gestreiftes Wappen eingemeiÃelt. Im Waschraum â einem langgezogenen Saal in einem der ehemaligen Speicher des Hauptschiffs der Burg â treffe ich einen Herrn im Blaumann, der sich an den Installationen zu schaffen macht. AuÃer dem Typen ist niemand da â meine Gastgeberin musste (natürlich!) ein paar Minuten nach unserem Telefonat weg. Unter den alten Balken der Dachkonstruktion kommen wir ein bisschen ins Gespräch. »Waxweiler? Das sind acht bis zehn Kilometer, oder?«, fragt er. »Nein, ich bin etwa 18 gelaufen.« »Das kann nicht sein. Was hatten Sie denn für eine Route?« Ich verspreche, nochmal in meinem Pilgerführer nachzusehen, gehe zurück in mein Zimmer und lasse mich in einen der Sessel fallen. Er ist bequem wie ein warmes Wannenbad. Für einen kurzen Moment sehe ich statt des Wappen-Schlusssteins Leute über mir. Ich frage mich, ob sich die Steinmetze damals Gedanken über die Menschen gemacht haben, die einmal unter diesem Gewölbebogen leben werden. Ganz kurz
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