Santiago liegt gleich um die Ecke
Bank, die daneben rund um einen Baum gezimmert ist: In der Ruhe liegt die Kraft ist da eingeschnitzt. Früher war die Kapelle übrigens mit einer Eremitage verbunden. Ich denke kurz nach: Jahrelang in der Einsamkeit zu leben, sich zu ernähren von Lebensmitteln, die einem die Leute unter der Tür durchschieben und sich ansonsten nur auf eine â meinetwegen auch â spirituelle Aufgabe zu konzentrieren: Es gab Zeiten, da hätte mich das gereizt. Jetzt nicht mehr. Irgendwie ist in den letzten Tagen ganz unbemerkt schon wieder etwas mit mir passiert: Ich vertraue den Menschen plötzlich! Hey â habe ich meinen Rucksack in Waxweiler wirklich bei wildfremden Leuten stehen lassen? OK: Sind ja nur ein paar Klamotten drin, die man überall nachkaufen kann. Andererseits: Mittlerweile bin ich mit jedem Teil darin auf Du. Wenn irgendetwas beim Einräumen nicht durch meine Hand geht, fühle ich mich wie eine Henne, die ein Küken vermisst. Das erleichtert mir das Aufbrechen übrigens ganz erheblich: Ich muss mich inzwischen nicht mal mehr umdrehen, wenn ich eine Tür hinter mir zuziehe. Trotzdem: Das alles ist nur Nebensache. Irgendwie beginne ich, aus tiefstem Herzen neugierig zu werden auf die Menschen, denen ich begegne. Im Ernst: eine Unbekannte, die mir aufgetragen hat, eine Kapelle zu besuchen â hallo? Eine Frau, die eine Jugendherberge führt, ein alter Herr, der sich für meinen Wanderstab interessiert, eine Verkäuferin, die mich anlächelt, während sie mein Brötchen schmiert ⦠Was kommt wohl als nächstes? Ich bin aufgeregt wie ein 16-Jähriger vor seinem ersten Rendezvous! Weiter!
So: Der Aufstieg des Tages ist geschafft! Von hier oben sieht die Stadt aus, als wäre sie mir eben aus der Hosentasche gefallen. Mein Gott â ich bin mit positiver Energie angefüllt wie eine stramme Wasserbombe!
Immer wieder bleibe ich stehen und betrachte auf meinen Stab gestützt die Umgebung, die sich um mich herum herschenkt. Bin ganz besoffen von den kissenartigen Hügeln, die hier und da von kleinen Wäldchen frisurt und von Schäfchenwolkenschatten beweidet werden. Ja, so viel Kitsch muss sein! Hier schon! Am Eingang des Neuerburger Stadtwaldes Lindscheid entdecke ich sogar etwas Spannendes, das ich in meinem Pilgerführer nicht finden kann: Eine steinalte Eiche im ansonsten von Buchen geprägten Forst. Der Baum war über Generationen das Ziel junger Frauen, die von ihren weinenden Kindern genervt waren: Gebete vor der sogenannten Kreijschkoos galten dagegen als probates Mittel. Laut eines einlaminierten Zettelchens, das hier in einem Holzrahmen steckt, sollen hier noch vor zwei Jahrzehnten betende Mütter anzutreffen gewesen sein. Der Zettel ist allerdings aus dem Jahr 1962.
Auch auf das Highlight dieses Tages bin ich in keiner Weise vorbereitet. Ich laufe über steinige Feld- und Waldwege, komme an einer Herde freundlicher Kühe vorbei, die nicht wissen, was für ein Schweineglück sie haben, überquere die Enz, ein kleines Flüsschen, das mich an einige Bäche im Bergischen Land erinnert â und erreiche schlieÃlich Sinspelt, ein Ãrtchen, so unscheinbar wie eine Kiefer in einem Lärchenwald. Nach ein paar Hundert Metern fällt mir ein Schild auf: »Bauernhof-Café«. Schade: Es ist zwar noch früh, aber irgendwie möchte ich die gewonnene Zeit nicht verspielen.
Aber das Café ist hartnäckig: Kurz darauf taucht die Hinweistafel noch einmal auf â das kommt mir vor, als ob mich jemand ein zweites Mal an der Jacke zieht. Da lenke ich dann doch ein! Nach vielleicht 200 Metern lande ich auf einem Hof, auf dem ein paar rustikale Holztische stehen. Leider sieht das Café arg verrammelt aus. Egal: Wenn ich schon mal da bin, setze ich mich halt auf eine Bank neben einem kleinen Baum, der zwar noch nicht viel Schatten spenden kann, aber schon eine leise Ahnung des kommenden Sommers verströmt. Ich habe gerade meine mitgebrachten Teilchen ausgepackt, da kommt ein recht gelassen aussehender Mann mit grau melierten Haaren und einem blauen, etwas verschlissen, aber todbequem aussehenden Sweatshirt aus dem Gutshaus.
»Kann ich Ihnen noch irgendetwas bringen?«, fragt er. »Ooch, ich möchte keine Umstände machen â¦Â«, erwidere ich. »Oh«, sagt der Mann, »das macht gar nichts«, in einem Tonfall, als müsse er mich vor einer schweren Operation beruhigen. O. K.: Apfelschorle
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