Santiago liegt gleich um die Ecke
und dämlich verdient, aber seinen Nachwuchs nicht zu Gesicht bekommt. Andererseits: Wie kann ich mir herausnehmen, mich über das über Jahrzehnte erarbeitete Millionenvermögen eines erfolgreichen Börsenmaklers totzulachen, aber einer Herbergsmutter, die Kindern Werte vermittelt, einen Heiligenschein anzuzünden? Ich ahne: Das wird die entscheidende Frage meiner Wanderschaft. Das ist das, was ich am dringendsten wissen möchte. Und ich ahne, dass die Antwort ganz einfach ist. Obwohl: viel Zeit ist ja nicht mehr â¦
Der Rest der Etappe ist leicht. Auf und ab war gestern â heute geht es an einem kleinen Flüsschen entlang, das sich seinen Weg hier durch blutrote Sandstein-Felsen schneidet. Allmählich gelange ich in die Ausläufer eines kleinen Städtchens. Es ist sehr warm geworden, fast heiÃ. Sommer! Im April! Bald habe ich mein Hotel erreicht. Die Leute auf der Terrasse einer Dönerbude nebenan betrachten mich, als wäre ich aus einer Erdspalte gekrochen. Blöderweise ist das Hotel jetzt zu. Diesmal bin ich zu früh. Sogar viel zu früh! Das geht also auch?
Ich gehe um das Gebäude herum und sehe durch das Glas einer Art Veranda jemanden mit einem Eimer und einem Schrubber eine Treppe hinaufgehen. Ich klopfe. Die Frau stellt ihren Eimer ab, macht mir Zeichen und ein paar Sekunden später auf. »Sie sind der Pilger, der noch fehlt, oder?« »Sind denn noch mehr da?« »Oh ja, eine ganze Gruppe!« Die Dame wollte gerade mein Bett richten und dann Feierabend machen. Fünf Minuten später und ich hätte den Nachmittag in der Dönerbude verbringen müssen! Die Frau lässt mich rein, feudelt vor meinen Augen eine
fensterlose, bebettete Besenkammer durch, drückt mir den Schlüssel dazu in die Hand und verabschiedet sich. Ich springe unter die Dusche nebenan und hänge alle meine Sachen auf eine Handtuchheizung, deren Rohre so heià sind wie Kernbrennstäbe. Dann falle ich aufs Bett wie ein müdes Herbstblatt und blättere ein wenig in meinem Pilgerführer.
Bis Trier sind es nur noch 54 Kilometer. Was? Ich bin ehrlich bestürzt. So wenig? Bloà noch drei Etappen? Wirklich? Nun, Trier ist mein Santiago, daran ist nicht zu rütteln. Ich lege mich eine halbe Stunde hin. Aber ich kann nicht schlafen. Dabei bin ich froh, endlich einmal einen Tag hinter mich gebracht zu haben, ohne dass meine FüÃe zu Feuerquallen mutieren. Ich stehe auf und beschlieÃe, mir den Ort etwas näher anzusehen, für den ich nun noch so viel Zeit habe â und gerate mitten in The Return Of Weilerswist : Eine langgezogene StraÃe, ein Bäcker, eine Kirche mit Pilgerstempel drin, ein Raiffeisenmarkt, die Dönerbude, zwei Hotels â das war es im Wesentlichen. Ach ja: Einen bemoosten Baum mit zwei Stämmen und einem »Naturdenkmal«-Schildchen dran gibt es auch noch. Auch einen Tante-Emma-Laden entdecke ich noch. Einen von der Sorte, wo man einer beleibten, netten Frau mit Kittel sagt, was man möchte und dann wartet, bis sie es in aller Ruhe auf den Tresen legt. Ich frage sie, was man sich denn hier auf der Durchreise so ansehen kann. »Oh, da gibt es einiges! Mettendorf ist groÃ.« Sie denkt eine Weile nach. »Zum Beispiel das Möbelgeschäft am Ortseingang und â¦Â« Dann stutzt sie. Kommt ins Grübeln, als hätte ich ihr eine Günther-Jauch-Millionenfrage gestellt. Ich verabschiede mich freundlich und gehe wieder in mein Hotel, vor dessen Tür Leute mit kleinen Rucksäcken stehen, die sich über eine Wanderkarte beugen. Nach und nach füllt sich auch der Wintergarten vor meinem Zimmer mit älteren Herrschaften, die fast durchweg in einem
Best-Ager-Werbespot mitspielen können â das müssen meine Pilgerkollegen sein. Aber es sind so viele ! Etwas betreten buche ich schon mal ein Zimmer in der Jugendherberge in Echternach, meinem nächsten Tagesziel. Man weià ja nie â schlieÃlich sind es diesmal nicht zwei Pilger, die mir mein Zimmer wegschnappen könnten, sondern gleich zwanzig mal so viel! Beim Abendessen entpuppt sich die vermeintliche Pilgergruppe allerdings als vollkommen ungefährlich: Es sind keine Zimmerwegschnapper, sondern Mitglieder eines Bonner Wanderclubs. Sie reisen mit dem Auto an, gehen ein paar Stunden auf heiligen Pfaden spazieren und dann wieder schlafen. Die beiden Kollegen, die mir in Prüm und Waxweiler über den Weg gelaufen sind, waren
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