Santiago liegt gleich um die Ecke
zur Kapelle offen stehen, »damit der Frühling hinein kann« â der muss hier vor ein paar Tagen erst ausgebrochen sein. Ich kann sie mit der Nachricht erfreuen, dass ich auf meinem Weg geradezu von explodierenden Kirschbäumen begleitet werde! Elisabeths Augen glänzen weiter, als sie mir im Gegenzug von den Kindern erzählt, die regelmäÃig über ihr Burggelände toben. Trotzdem gäbe es offenbar Leute, die aus der Burg lieber ein Luxushotel machen wollten, erklärt sie. Das erwischt mich nun wie ein kaltes Gespenst im Gesicht. Was kann denn bitte wichtiger sein, als junge Leute ein paar Tage von ihrer Playstation wegzulocken und ihnen ein wenig Geschichte beizubringen?
Bevor ich aufbreche, gönne ich mir noch eine kleine Besichtigungstour auf eigene Faust und entdecke Dinge, die mir gestern völlig entgangen waren: Schrottskulpturen, geschnitzte Figuren auf dem Geländer einer Empore, Nischen voller Holzscheite, knorrige,
getrocknete Wurzeln, in denen runde Steine liegen wie Eier einer unbekannten Vogelart in ihrem Nest. Nach einer halben Stunde bin ich von Eindrücken voll wie Bill Gatesâ Sparschwein mit 1.000 Dollar-Scheinen und doch sicher, dass ich immer noch erst einen Bruchteil der Anlage entdeckt habe. AnschlieÃend hole ich mir im Pfarrhaus bis zum Rand voll mit guten Eindrücken meinen Stempel ab. Ich muss etwas warten, weil die Sekretärin sich erst um einen Trauerfall kümmern muss: Einer alten Dame ist ihr einziger Sohn weggestorben. Er lebte in Scheidung, erfahre ich, und seine Frau hätte sich seit seinem Tod nicht ein einziges Mal bei ihr gemeldet. Zum zweiten Mal am Tag bin ich fassungslos.
Dann mache ich mich auf den Weg, um den Rest der gestrigen Etappe vollzumachen. Ich fühle mich so frisch, dass ich die zehn Kilometer auf einem Bein schaffen könnte, zur Not hüpfend auf dem groÃen Zeh. Meine Müdigkeit ist wie weggeblasen wie eine Gewitterwolke von einer lauen Sommerferien-Meeresbrise: Ich atme tief durch und bin ganz raschelig vor Glück! Darum gönne ich mir sogar einen kleinen Umweg: Ich besteige einen steinernen Turm, von dem aus man einen schönen Ãberblick über Neuerburg hat. Vor nicht mal zwölf Stunden hätte ich fast gekotzt, als in mir kurz die Idee aufblitzte, mir dieses Ding aus der Nähe anzusehen. Heute bin ich mit zwei Schritten oben.
Das Städtchen scheint sich vor mir in das Tal zu ergieÃen wie eine Art Gletscher; meine Pipi-Langstrumpf-Festung gegenüber passt zwischen zwei Finger. Irgendwas erinnert mich an Kronenburg; ich hoffe nur, dass dieser Ort hier mich schneller wieder rauslässt. Aber heute ist ja mehr Zeit: Ich schlendere mehr als dass ich wandere. An einem Hauseingang entdecke ich zwei kleine Buddha-Figuren. Ich gucke, ob ich irgendwo eine chinesische Speisekarte sehe. Dabei
spricht mich ein alter Mann an, der mindestens dreimal so alt, aber doppelt so schnell unterwegs ist wie ich. »Haben Sie den Stock selbst gemacht?«, fragt er. Wir unterhalten uns ein paar Minuten. Er findet, dass 14 Kilo für einen Rucksack nicht viel sind. Erst als er sieht, welchen Weg ich einschlage, sagt er: »Das wird aber steil!« »Ja«, sage ich, »das muss so sein!« Ein paar Hundert Meter weiter oben biegt der Jakobsweg in einen Kreuzweg ein. Es ist warm und der Himmel blau wie der in Ben Hur â Pullover aus! Da fällt mir ein Zettel auf, den jemand an einem Pfahl festgetackert hat. »El Camino â Die StraÃe des Glaubens« steht da. Darunter eine Zeichnung, die eindeutig mich darstellt, eine kleine Kartenskizze und ein Gedicht:
Man muà wie Pilger wandeln,
frei, bloà und wahrlich leer.
Viel sammeln, halten, handeln
macht unsern Gang nur schwer.
Wer will, der trag sich tot,
wir reisen abgeschieden,
mit wenigem zufrieden,
wir brauchens nur zur Not.
Gerhard Tersteegen 1697 â 1769
Schon nach der ersten Strophe bin ich bis ins Mark getroffen. So wenig hat sich in den letzten 250 Jahren geändert.
Obwohl der Kreuzweg nichts für Leute mit schwachen Beinen ist â wenn das so weitergeht, werde ich mir für die nächste Etappe eine Kletterausrüstung besorgen â , komme ich gut voran. Oder aufwärts. Auf halbwegs halbem Weg schält sich die sogenannte Kreuzkapelle vor mir aus dem Laub, laut Pilgerführer ein »barockes Kleinod«. Auf verzierte Altäre habe ich
aber keine Lust â viel spannender finde ich eine
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