Santiago liegt gleich um die Ecke
vielleicht? Vier Minuten später habe ich einen Tonbecher mit herrlich kühlem Apfelsaft vor der Nase. »Möchten Sie vielleicht ein Kissen?«, fragt der Mann, nachdem er das Ding abgestellt hat. Nanu â aus welcher Flasche kommt denn dieser gute Geist? Wir quatschen ein wenig. Ich erfahre unter anderem, dass der Rhabarberkuchen sensationell sein soll und der Apfelsaft ganz aus der Nähe kommt. Aber dann wird es unheimlich. Verghese ist nämlich mitnichten der
Kellner hier, sondern der Betreiber des Hofes â seit etwa sechs Jahren. Davor war er Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmensberater. Einer von der ganz harten Sorte. »Ich musste immer alles an einem Tag fertigkriegen«, erzählt er, »ich konnte nichts liegen lassen. Ich hatte eine 70-Stunden-Woche.« Und dann: hingeschmissen! Und zwar mit Schmackes: »Jetzt rufen sie wieder an. Aber ich habe keine Lust mehr. Mir gefällt es so, wie es ist«, sagt er, und macht eine Kopfbewegung in Richtung Haus.
Du meine Güte: Ich bin hier, weil ich mich von der blöden Wirtschaftskrise nicht unterkriegen lassen wollte. Weil ich sie als Chance nutzen wollte. Ein bisschen Aussteigen, mal gucken, was kommt. Und jetzt treffe ich jemanden, der dasselbe schon vor sechs Jahren gemacht hat! Ohne Netz!
Verghese nickt. »Wenn ich diese ganzen jungen Manager sehe! Die arbeiten und haben Erfolg. Aber sie müssen einen hohen Preis bezahlen. Ich musste diesen Preis auch bezahlen. Ich hatte immer einen sauberen Schreibtisch. Aber ich habe meine Kinder nicht mehr gesehen«, sagt er. Es klingt so, als beschreibt er, wie ein Auto funktioniert. »Wissen Sie«, sagt er, »die Krise ist schlimm, aber ich glaube, sie wird nicht schlimm genug, um die Leute wirklich aufzurütteln.« Was will er denn noch? Verghese hebt die Arme: »2.500 Euro für ein Schrottauto, aber nur 100 Euro für ein Kind. Da läuft doch was schief!« Er redet sich in Rage. »Stellen Sie sich mal vor: Ich habe neulich gelesen, dass man für die Herstellung eines T-Shirts 1.000 Liter Wasser benötigt. 1.000 Liter! Und jetzt kommt die Krise â und alle versuchen bloÃ, irgendwie den alten Zustand wieder herzustellen, anstatt wirklich grundlegende Dinge zu verändern.« Aber ich höre nur noch mit halbem Ohr hin. Etwas an dem, was er eben gesagt hat, klingt in mir weiter. Ich komme nochmal auf die Manager zu sprechen. Auf
die Gier ⦠»Ja, Leute wie â¦Â«, er nennt ein paar Namen, die in den letzten Wochen öfter in der Zeitung standen, »⦠sind eine Schande für Führungskräfte.« »Aber warum machen die das?«, frage ich, während ich mich noch frage, warum ich zu diesem Typen so ein Vertrauen habe. »Ich meine ⦠man nimmt doch nichts mit.« »Ja. Schon. Aber man lässt auch etwas zurück «, sagt Verghese.
Jetzt bin ich froh, dass ich eine Bank habe. Obwohl Verghese nicht bemerkt, dass er mich ausgeknockt hat: »Man muss doch dafür sorgen, dass etwas Gutes zurückbleibt. Das Problem ist, dass gierige Menschen zum Vorbild gemacht werden. Dass Gier belohnt wird! Im Moment kaufen sich die Leute doch auf Kosten ihrer Kinder aus der Krise heraus«, sagt er. Ich muss an Elisabeth und ihre Bilderbuchburg denken. »Wir müssen uns drüber klar werden, was für eine Gesellschaft wir wollen«, meint Verghese. Dann klopft er mir auf die Schulter. »Was Sie da machen«, sagt er, »ist der richtige Weg. Man muss loslassen.« »Sie sind ein weiser Mann«, sage ich. »Ach nein, die finden Sie überall«, antwortet er. Und ich staune schon wieder darüber, dass das Interessante am Weg wieder einmal nicht das Ziel war, sondern etwas, das mir am Rand begegnet ist. Wieder einmal war es ein Umweg, der mich meinem eigentlichen Ziel näher gebracht hat. Whoa.
Das Gespräch hält mich noch eine ganze Weile gefangen. Ich bin einen Schritt weiter . Wie war das noch: Worauf soll ich mein Leben ausrichten, wenn man am Ende doch mit leeren Händen dasteht? Im Sarg liegt man doch wie ein Baby â mit leeren Händen. Aber man lässt etwas zurück . Es bleibt also doch etwas! Nur nicht einem selbst, sondern den anderen. Wieso bin ich da nicht selbst drauf gekommen? Aber ganz
so easy ist es dann doch nicht. Was soll ich denn nun zurücklassen? Ich ahne: Elisabeth vererbt uns mit ihren 100.000 lachenden Kindern einmal mehr als ein Manager, der sich dumm
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