Santiago liegt gleich um die Ecke
habe ich die Vision, dass mich einer von ihnen, gekleidet in ein grobleinenes Hemd und eine Lederschürze, anschaut und mir die Hand reicht, dann falle ich in einen tiefen Schlaf.
Irgendwo in der Nähe läuten Kirchenglocken. Ziemlich benommen richte ich mich auf und torkele aus dem Zimmer. Drei Stunden geschlafen! Ich komme
kaum die Treppe zum Flur hoch, so schwindelig ist mir vor Hunger. Ich gehe ins Dorf und decke mich mit Getränken und Keksen ein; bei einem Chinesen ganz in der Nähe gibt es Ente süss-sauer, die wahrscheinlich in Barbituraten statt Glutamat getränkt war: Trotz meines Kindergarten-Pensums heute bin ich immer noch unendlich müde.
Spuken soll es übrigens nicht, hat die Wirtin gesagt, »und wenn, dann sind es gute Geister.« Ich streife noch einmal durch das einsame Gemäuer. Bin immer noch der einzige Gast: Meine Prümer Edelpilger sind garantiert nach Mettendorf weitergezogen, der Monteur ist auch weg. Ich sehe mir alles noch einmal genau an, die Treppen aus altem Holz und die schweren Türen, ich blicke aus jedem Fenster, das ich finden kann; das milde Abendlicht packt die Häuser und Bäume tief unter mir in gelbe Watte. Auf einer Fensterbank finde ich eine Ausgabe des ersten Harry-Potter-Bandes â einen besseren Ort, dieses Buch zu lesen, kann ich mir auf der ganzen Welt nicht vorstellen! Als ich zurück in meinem Zimmer bin, habe ich allerdings den festen Eindruck, dass mein Sessel anders da steht als ich ihn verlassen habe â und sogar anders, als ich so ein Ding jemals hinstellen würde, aber auch das beunruhigt mich nicht im mindesten. Ich rücke das Möbelstück wieder zurecht, schütte drei Liter Limonade und Trinkjoghurt in mich hinein und habe immer noch Durst. Trotzdem geht es mir gut. Ich ziehe noch einmal das Zettelchen hervor, das ich beim Chinamann in meinem Glückskeks gefunden habe: Jetzt ist die Zeit, etwas Neues auszuprobieren , steht da drauf.
»Viel sammeln, halten, handeln macht unseren Gang nur schwer«
Freitag, 24. April â Neuerburg bis Mettendorf
Ich ziehe den Vorhang vor dem winzigen Fenster zur Seite â holla, als Vampir wärâ ich jetzt verbrannt: Der Burginnenhof wird von der frühen Sonne gerade komplett mit Silberfolie ausgeschlagen. Der Sessel steht allerdings noch an der richtigen Stelle. Mein Gott: Wenn ich im Leben jemals damit gerechnet hätte, dass mich um Mitternacht irgendetwas Seltsames aus einer düsteren Zimmerecke heraus anblickt: Hier wäre der richtige Platz dafür gewesen! Aber ich hätte wohl nicht einmal was gemerkt, wenn nachts Möbel durchs Zimmer geflogen wären oder mir irgendein Wahnsinniger mit Munch-Maske die Leber herausgenommen hätte.
Trotzdem habe ich etwas Seltsames geträumt: Ich muss mein Abitur nachholen, habe aber irgendein wichtiges Fach geschwänzt. Jetzt ist es zu spät: Ich werde den fehlenden Stoff bis zur Prüfung nie und nimmer nachholen können. Normalerweise wache ich an dieser Stelle auf. Dieses Mal läuft alles anders: Jemand nimmt mich an die Hand, der mir sehr nahe ist, ohne dass ich ihn erkenne, und erklärt mir: »Alles nur ein Irrtum. Ruhâ dich aus. Das hast du dir verdient. « Und ich falle im Traum in einen tiefen Schlaf. Jetzt, mit der Stirn im Morgenlicht, schreibe ich alles auf, verstehe aber nichts. Dabei ist das überhaupt erst der zweite Traum in den letzten beiden Wochen, an den ich mich nach dem Aufwachen erinnere. Der in Waxweiler, vorgestern Nacht, war von ganz anderem Kaliber: Ich war wieder im normalen Leben. Irgendwann nach meiner Wanderung. Aber alles war wie
früher. Es war, als würde mir das Herz in der Brust schwarz werden.
Danach lasse ich mir besonders viel Zeit für alles. Die Duschen werden immer noch nicht warm, also werfe ich mich statt unter die Brause tief in meinen Sessel und gönne mir erst einmal einen halben Liter Molke mit Apfelgeschmack, den ich mir gestern förmlich vom Mund weggerissen habe, damit ich mich heute Morgen auf etwas freuen kann. Gegen viertel vor neun bekomme ich meine Herbergsmutter das erste Mal zu Gesicht: Eine etwas zerbrechlich, zugleich erschöpft, aber doch glücklich wirkende Frau mit leichten Schatten unter den Augen. Sie gewährt mir eine Privatführung über das Burggelände. Im alten Rittersaal soll heute eine Trauung stattfinden; der Raum ist bereits mit Tüchern geschmückt. Elisabeth lässt die Tür
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