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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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Grund habe ich kurz zuvor auf meine Karte geguckt und weiß, dass ich hier links muss, aber ich finde ums Verrecken keinen entsprechenden Wegweiser. Ich gehe ein paar Meter geradeaus, um sicherzugehen, aber in dieser Ecke der Welt gibt es offenbar weniger Muschelschilder als glückliche Bankmanager bei den Lehman Brothers. Also zurück und links. Nach ein paar Kurven sehe ich zwei Frauen in einer Biegung stehen.
    Monika, Maria und ich klatschen aufeinander wie drei Knetgummikugeln. Mann, ich habe mich selten so gefreut, zwei Menschen wiederzutreffen! Die beiden haben die Zeit, die ich vor dem Stempelbüro gewartet habe, gut genutzt – und zwar, um sich zünftig zu verlaufen! Sie sind geradeaus gegangen, bis sie nach drei Kilometern die Nase voll und an einer Gaststätte nach dem Weg gefragt hatten – womit sie
heute übrigens nicht die ersten waren. Wir beschließen, ein kleines Stück gemeinsam zu gehen. O. K.: In Punkto »den Weg in Ruhe Revue passieren lassen« bin ich bisher ungefähr so weit gekommen wie ein Hund, den man vor der offenen Ladentür eines Metzgers von der Leine lässt. Aber ich habe ja noch genug Kilometer vor mir. Jetzt machen wir allerdings erstmal nahtlos da weiter, wo wir vorhin aufgehört haben: Wir reden und reden und reden. Über Gott und die Welt. Und den Weg. Maria hat dieses Pilgerbuch, das alle kennen, fünf Tage vor ihrem Vierzigsten in die Finger bekommen und verschlungen wie eine Dreijährige ihr erstes Eis. Geburtstagsparty, ein feierlicher Entschluss – weg war sie. Auf den beiden weißen Steinen, die sie am echten Cruz de Ferro abgelegt hat, standen die Namen zweier verstorbener Freunde, bei deren Beerdigung sie nicht dabei sein konnte. Sie hat sie ganz feierlich und liebevoll an die schönste Stelle gelegt. Jessas: Dagegen ist meine Geschichte mit den blöden Münzen ja sowas von schäbig …
    Auch Monika breitet ihren Lebenslauf vor mir aus wie weiße Flügel. Vater, Mutter, Kinder … schon nach gefühlten zwei Kilometern weiß ich über diese Frau mehr als über die meisten der sechs Milliarden anderen Menschen auf dieser Welt. Vielleicht sogar mehr als über mich. Ich revanchiere mich so gut es geht: Ich werfe alle meine Schwerter und Schilde weg, das ganze Waffenarsenal, das man sich über die Jahrzehnte angeeignet hat, um das Innerste seiner Burg zu schützen, und staune nur noch, was alles auch aus mir heraussprudelt. Die Landschaft schaukelt an mir vorbei wie ein Kerner-Interview: Man findet es irgendwie spannend, aber es bleibt nichts hängen. Ich erinnere mich nur an wenige Dinge: Etwa an eine Kapelle, deren Wände voller kleiner Kreuze mit Namen und Sterbedaten hingen – mir war aufgefallen, dass auf zweien davon die Vornamen abgekürzt werden
mussten, weil der Nachname zu lang war. Irgendwie habe ich Mitleid mit diesen beiden Toten.
    Irgendwann machen wir Pause. Wir teilen das, was wir haben: Äpfel, Birnen, Käsebrote. Ich schneide das Zeug, das ich heute Morgen beim Bäcker besorgt habe, jeweils in drei gleich große Streifen. Und betrachte die Muscheln, die die beiden an ihre Rucksäcke gebunden haben; an einer hängt ein kleiner Anhänger, der an einen wichtigen Verstorbenen erinnert, der nicht selbst mitgehen konnte. Wieder bin ich ergriffen, aber ich fühle mich wohl, alle Dinge kommen mir auf einmal leicht vor wie Wasserstoff, so einfach! Um nichts in der Welt möchte ich jetzt alleine weitergehen! O. K., das mit der Lonely-Cowboy-Nummer und dem »Strich ziehen« kann ich vergessen: An diesem Nachmittag spreche ich mehr Worte als die ganzen letzten drei Wochen zusammengenommen. Und die restlichen Kilometer nach Trier rutschen durch, als hätte jemand eine Bohrmaschine an meinen Tacho gelegt.

    Jedenfalls bis zur Mosel. Denn genau da ist die Eifel plötzlich vorbei. Wir treten aus einem netten Fachwerk-Örtchen – und stehen in den Abgaswolken einer Landstraße, die der Ruhrgebiets-Schlagader A40
kurz nach Feierabend ein ebenbürtiger Spielkamerad wäre. Der Fluss ist gerade mal 100 Meter entfernt, aber durch den ganzen Staub kaum zu erkennen. Der Bürgersteig ist schmaler als das deutsche Bildungsbudget – mein linker Fuß kommt mir breiter vor. Und jetzt? Den Bus nehmen? Nix da! Das wäre so, als würde man sich die letzten hundert Meter eines Marathons tragen lassen! Dann werde ich mir Trier eben erobern ! Monika und

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