Saphirtraenen (Gesamtausgabe)
Lachen.
„Nicht so schüchtern. Komm ruhig näher.“
Enya schließt ihre Augen und versucht sich alles in Erinnerung zu rufen, was sie über die Wesen weiß, denen sie gegenüber treten muss. Wassernixen.
Sie können ihre Handlungen nicht vorausplanen, sind nicht intelligent und doch tödlich. Seit Anbeginn ihrer Zeit perfektionieren sie ihre Fähigkeit, Ilyea nachzuahmen. Ihre Sprache, ihre Verhaltensweisen, ihre Mimik.
Viele Wanderer, Ahnungslose und Abenteuerlustige fanden in ihren glitschigen Armen den Tod. Sie vergaßen die wahre Seele der durchtriebenen Kreaturen und glaubten ihrer Maskerade. Sie glaubten, was sie glauben wollten: Dass diese wunderschönen Frauen, halb Fisch, halb Ilyea, ihnen verfallen waren. Jeder Mann wollte der Grund dafür sein, dass die unnahbaren Schönheiten den schwarzen Teil ihrer Seele kontrollieren konnten. Jeder Mann wollte der Erste sein, der eine Nixe zähmen und ihr Herz gewinnen konnte. Diese törichte Hoffnung machten sich die Schattenwesen zu nutze, um ihren unbändigen Hunger nach frischem Fleisch und Seelen zu stillen.
Enya ist klar, dass sie vorsichtig sein muss. Sobald sie sich den Monstern nähert, wird sie in die Tiefe des Flusses hinabgezogen. Sie atmet noch einmal durch, dann öffnet sie ihre Augen und geht einige Schritte auf das unheilvolle Gewässer zu.
„Noch ein Stück.“
Lässig stützt die Wassernixe am Uferrand den Kopf auf ihre Arme und blinzelt arglos. Im Sonnenlicht leuchten ihre nassen Haare blaugrün wie ein schillernder Edelstein. Ihre Gesichtszüge sind sanft, die goldenen Augen werden von langen Wimpern umrahmt und ihre nackten Brüste von herabhängenden Haarsträhnen bedeckt. Ein einladendes, freundliches Lächeln umspielt die vollen Lippen.
„Nein.“
Enyas lautes, bestimmtes Wort zaubert Falten auf die Stirn der Nixe.
„Nein?“, fragt sie in einem unwissenden Tonfall und schlägt die Augen nieder. Sie zuckt mit ihren dünnen Schultern und seufzt melancholisch.
„Ich verstehe.“
Ihr Gesicht hellt sich auf und das Lächeln kehrt zurück.
„Du glaubst, dass ich dir etwas antun möchte.“
Scheinbar brüskiert stößt sie sich vom Ufer ab, verschränkt die Arme vor der Brust und schiebt ihre Unterlippe hervor.
„Du hältst mich für eine von den anderen.“
Vorwurfsvoll runzelt die Nixe ihre Augenbrauen.
„Für ein hungriges, seelenloses Monster.“
Gleichsam fasziniert und angewidert von den perfekten Schauspielkünsten des Wasserwesens steht Enya still da und beobachtet das Theaterstück, welches sich ihr bietet.
Eine blauschimmernde Schwanzflosse hebt sich aus dem Fluss, um kurz darauf auf die Wasseroberfläche zu schlagen. Kaltes Wasser regnet auf Enya nieder, doch sie rührt sich nicht.
In ihren Gedanken erinnert sie sich an die alte Legende. Jene Geschichte, die erzählt, weshalb Wassernixen sind, wie sie sind.
Einst verzehrte sich eine Meer-Ilyea so sehr nach dem Meer, dass sie ein Fisch sein wollte, um für immer in den tiefen des Ozeans schwimmen zu können. Sie bat die Göttin um ihre Hilfe, doch diese wollte den Wunsch nach einem Fischschwanz nicht gewähren.
Voller Verzweiflung machte sich die Ilyea auf dem Weg zum Dämonenfürst. Eine Kreatur, die zu jener Zeit so machtvoll und grausam war, dass sie jedes Mittel nutzte, um dem Willen der Göttin zu widersprechen.
Der Dämon nahm die Ilyea und einen Fisch mit sich, tief in das innere der Erde. Ohne zu Zögern brach er sowohl das hilflose Tier als auch die aufopferungsbereite Ilyea entzwei und einte den Oberkörper des Meereskindes mit dem Schwanz des Fisches.
Sein grausames Werk brachte er zurück an die Oberfläche und warf das verwirrte Wesen in einen Fluss. Die Ilyea war glücklich, doch die Göttin war erzürnt. Sie nahm ihrem Kind die Seele und verdammte sie somit dazu, auf ewig nach den Lebenskräften anderer zu lechzen, ohne dabei einen klaren Gedanken fassen zu können. So entstand die erste Nixe, wenn man den alten Erzählungen Glauben schenkt.
Fröstelnd reibt sich Enya über ihre Arme und schüttelt den Kopf, um die verstörenden Bilder zu vertreiben. Für ein seelenloses Monster funkeln die Augen dieses Exemplars zu intelligent.
„Ich bin nicht hier, um das Abendessen eines Monsters zu werden.“
„Ich verspeise grundsätzlich nur männliche Exemplare“, entgegnet die Nixe ungerührt.
Als sie Enyas entgeistertes Gesicht sieht, lacht sie laut auf und nähert sich wieder dem Ufer.
„Willst du jetzt näher kommen und mit mir reden? Du
Weitere Kostenlose Bücher