Sara Linton 01 - Tote Augen
dass sie ein völlig anderer Typ Polizist war als Will. Er wusste seit Langem, dass seine weniger aggressive Herangehensweise an die Arbeit im Widerspruch zu ihrer stand, doch dieser Kontrast war kein Streitgrund, sondern eher etwas, das ihnen beiden zugutekam. Doch im Augenblick war er sich da nicht so sicher. Faith wollte, dass er einer der Polizisten war, die Will verachtete – einer, der erst die Fäuste schwang und sich dann über die Konsequenzen Gedanken machte. Will hasste diese Polizisten, hatte mehr als ein paar Fälle bearbeitet, bei denen er sie aus der Truppe hatte entfernen lassen. Man konnte nicht behaupten, dass man zu den Guten gehörte, wenn man sich genauso verhielt wie die Schlechten. Faith musste das doch wissen. Sie war in einer Polizistenfamilie aufgewachsen. Andererseits war ihre Mutter wegen vorschriftswidrigen Verhaltens aus der Truppe gedrängt worden, und so konnte es sein, das Faith es zwar wusste, es ihr aber egal war.
Will konnte diese Argumentation nicht akzeptieren. Faith war nicht nur eine gute Polizistin, sie war auch ein guter Mensch. Sie beharrte noch immer darauf, dass ihre Mutter unschuldig war, und glaubte noch immer, dass es eine deutliche Trennlinie zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch gab. Will konnte ihr nicht einfach sagen, dass seine Art die beste war – das musste sie schon selbst erkennen.
Er war nie auf Streife gegangen wie Faith, aber er hatte bereits in vielen kleinen Gemeinden gearbeitet und auf die harte Art gelernt, dass man sich nicht mit den Kollegen vor Ort anlegte. Vom Gesetz her riefen die Chefs das GBI , nicht die Detectives und Streifenbeamten auf der Straße. Sie bearbeiteten unweigerlich ihre Fälle weiter, weil sie dachten, sie könnten sie allein lösen, und reagierten auf jede Einflussnahme von außen sehr gereizt. Es konnte durchaus passieren, dass man später etwas von ihnen brauchte, doch wenn man sie brüskierte und ihnen jede Chance nahm, ihr Gesicht zu wahren, dann würden sie einem die Arbeit aktiv sabotieren und sich nicht um die Konsequenzen scheren.
Der vorliegende Fall betraf das Rockdale County. Amanda hatte sich Lyle Peterson, den Polizeichef, bei der gemeinsamen Arbeit an einem anderen Fall zum Feind gemacht. Jetzt, da sie die Kooperation der Kollegen vor Ort brauchten, sabotierte Rockdale County in Gestalt von Max Galloway die Zusammenarbeit, der die schmale Trennlinie zwischen einfach nur ein Trottel und grob nachlässig zu sein immer wieder überschritt.
Faith musste begreifen, dass Polizisten nicht immer selbstlos handelten. Sie hatten Egos. Sie hatten Territorien. Sie waren wie Tiere, die ihr Revier markierten: Wenn man in ihr Gebiet eindrang, war es ihnen egal, ob die Leichen sich türmten. Für einige von ihnen war es nur ein Spiel, das sie gewinnen mussten, gleichgültig, wer dabei zu Schaden kam.
Als könnte Betty seine Gedanken lesen, blieb sie am Eingang des Piedmont Park stehen, um ihr Geschäft zu verrichten. Will wartete, kümmerte sich dann um ihre Hinterlassenschaft und warf den Beutel unterwegs in einen Abfallkorb. Jogger liefen in Horden durch den Park, einige mit Hunden, andere allein. Gegen die kühle Luft waren sie alle warm angezogen, doch Will sah an der Art, wie die Sonne den Nebel wegbrannte, dass es bis Mittag warm werden und sein Kragen am Hals scheuern würde.
Der Fall war vierundzwanzig Stunden alt, und er und Faith hatten einen vollen Tag vor sich – mit Rick Sigler sprechen, dem Sanitäter, der vor Ort gewesen war, als Anna von dem Auto angefahren wurde, Jake Berman, Siglers Aufriss, aufspüren, dann Joelyn Zabel befragen, Jacquelyn Zabels schreckliche Schwester. Will wusste, er sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber er hatte die Frau gestern Abend überall im TV gesehen, sowohl in lokalen wie nationalen Sendern. Offensichtlich redete Joelyn gern. Und noch offensichtlicher verteilte sie gern Schuldzuweisungen. Will war dankbar, dass er gestern bei der Autopsie gewesen war, dass die Last von Jacquelyn Zabels Tod nicht mehr neben allen anderen Lasten auf seine Schultern drückte, denn sonst hätten die Worte der Schwester ihn geschmerzt wie tausend Messerstiche.
Er wollte Pauline McGhees Haus durchsuchen, aber dagegen würde Leo Donnelly wahrscheinlich protestieren. Dieses Problem musste doch irgendwie gelöst werden können, und wenn Will an diesem Tag etwas erreichen wollte, dann, einen Weg finden, Leo mit ins Boot zu holen. Anstatt zu schlafen, hatte Will fast die ganze letzte Nacht
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