Sara Linton 01 - Tote Augen
spüren, der über ihre Familie und ihren Job und ihre Vergangenheit Bescheid wusste – auch wenn dieser Mensch ihr im Augenblick wenig nützte. Sie küsste ihn sehr sanft auf den Mund, sehr sanft und mit keiner anderen Bedeutung als der, sich wieder verbunden zu fühlen. » Ist schon okay.«
Sam zog sich zurück. Er war zu verlegen, um zu erkennen, dass es unwichtig war.
» Sammy …«
» Ich bin noch immer nicht so ganz daran gewöhnt, nüchtern zu sein.«
» Es ist okay«, sagte sie und versuchte, ihn noch einmal zu küssen.
Er wich noch mehr zurück und schaute ihr über die Schulter anstatt in die Augen. » Willst du, dass ich …« Er zeigte mit halbherziger Geste auf ihren Schoß.
Faith seufzte tief. Warum waren die Männer in ihrem Leben immer so eine Enttäuschung? Sie hatte doch bei Gott keine hohen Ansprüche.
Er schaute auf die Uhr. » Gretchen wartet wahrscheinlich auf mich. Habe in letzter Zeit ziemlich viele Überstunden gemacht.«
Faith gab es auf und stützte den Kopf an den Hängeschrank hinter ihr. Aber etwas könnte sie aus dieser Situation doch herausschlagen. » Hättest du was dagegen, den Abfall mitzunehmen, wenn du gehst?«
12 . Kapitel
V erdammte Scheiße«, flüsterte Pauline und wunderte sich, warum sie nicht aus Leibeskräften schrie. » Verdammte Scheiße!«, brüllte sie dann, doch ihre Stimme brach. Sie schüttelte die Handschellen an ihren Handgelenken, zerrte an ihnen, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Sie war wie ein verdammter Gefangener in einer Zelle, die Hände gefesselt, die Handschellen an einem Ledergürtel verzurrt, sodass sie, auch wenn sie sich zu einem Ball zusammenrollte, mit den Fingerspitzen kaum ihr Kinn berühren konnte. Ihre Füße waren angekettet, die dicken Glieder rasselten bei jedem Schritt, den sie machte. Sie hatte genug Yoga gemacht, um die Füße bis an den Kopf zu bringen, aber was nützte ihr das? Was brachte ihr die Halasana-Stellung, wenn ihr Leben in Gefahr war?
Die Augenbinde machte alles noch schlimmer, obwohl sie es geschafft hatte, sie ein bisschen nach oben zu schieben, indem sie ihr Gesicht an den rauen Betonblöcken der einen Wand gerieben hatte. Die Binde war eng. Millimeter um Millimeter wanderte sie nach oben, doch dabei wurde ihr auch die Haut an der Wange abgeschürft. Es war kein Unterschied, ob sie den Blick direkt auf das Innere des Stoffstreifens richtete oder unten hindurchspähte, aber Pauline hatte das Gefühl, etwas erreicht zu haben, besser vorbereitet zu sein, wenn diese Tür aufging und sie unter der Binde einen winzigen Lichtstreifen sah.
Im Augenblick herrschte Dunkelheit. Das war alles, was sie sah. Keine Fenster, kein Licht, keine Möglichkeit, den Zeitverlauf abzuschätzen. Wenn sie darüber nachdenken würde, dass sie nichts sah, dass sie nicht wusste, ob sie beobachtet oder gefilmt oder noch Schlimmeres wurde, dann würde sie den Verstand verlieren. Zum Teufel, sie verlor ihn ja so schon beinahe. Sie war triefnass, Schweiß drang ihr aus allen Poren, lief ihr über die Stirn und kitzelte sie an der Nase. Es war zum Verrücktwerden, und diese verdammte Dunkelheit machte alles nur noch schlimmer.
Felix mochte die Dunkelheit. Er mochte es, wenn sie sich zu ihm ins Bett legte, ihn in den Arm nahm und ihm Geschichten erzählte. Vielleicht hatte sie ihn als Baby zu sehr verhätschelt. Sie hatte ihn nie aus den Augen gelassen. Sie hatte Angst, dass jemand ihn ihr wegnahm, dass jemand erkannte, dass sie eigentlich keine Mutter sein sollte, dass sie nicht fähig war, ein Kind so zu lieben, wie ein Kind geliebt werden sollte. Aber sie tat es. Sie liebte ihren Jungen. Sie liebte ihn so sehr, dass der Gedanke an ihn das Einzige war, was sie davon abhielt, sich zu einem Ball zusammenzurollen, die Fußkette um den Hals zu wickeln und sich umzubringen.
» Hilfe!«, schrie sie, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Wenn der Entführer befürchtete, man könnte sie hören, hätte er sie geknebelt.
Schon vor Stunden war sie den Raum abgeschritten und hatte die Größe auf sieben mal fünf Meter geschätzt. Eine Schlackesteinwand auf einer Seite, Gipsplatten auf den anderen, mit einer Metalltür, die von außen verriegelt wurde. Vinylmatratze in einer Ecke. Ein Toiletteneimer mit Deckel. Der Beton war kalt unter ihren nackten Füßen. Aus dem angrenzenden Raum war ein Brummen zu hören, ein Heißwasserboiler, irgendetwas Mechanisches. Sie war unter der Erde, was ihr das Gefühl gab, die Haut würde sich von ihrem
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