Sara Linton 01 - Tote Augen
zwischen den schlimmsten Fotos zu stecken schien. Schließlich fand sie den Abschnitt über die äußere Untersuchung der Leiche. » Zweiter Absatz«, sagte sie.
Joelyn zögerte kurz, bevor sie vor auf die Stuhlkante rutschte. Sie versuchte, einen besseren Blick auf die Fotos zu bekommen, so wie einige Leute bremsen, um einen besonders schrecklichen Autounfall anzustarren. Schließlich lehnte sie sich mit dem Bericht wieder zurück. Will sah ihre Augen beim Lesen hin und her wandern, doch plötzlich hörten sie auf, und er wusste, dass sie überhaupt nichts mehr sah.
Ihr Kehlkopf hüpfte, als sie schluckte. Sie stand auf, murmelte: » Entschuldigen Sie mich«, und stürzte aus dem Zimmer.
Die Luft schien mit ihr aus dem Zimmer zu weichen. Faith starrte vor sich hin. Amanda nahm sich Zeit, die Fotos zu einem ordentlichen Stapel zusammenzuschieben.
Der Anwalt sagte: » Das war nicht nett, Mandy.«
» So läuft’s eben.«
Will stand auf. » Ich muss mir mal die Beine vertreten.«
Er verließ das Zimmer, bevor irgendjemand reagieren konnte. Caroline, Amandas Sekretärin, saß an ihrem Schreibtisch. Will hob das Kinn, und sie flüsterte: » Auf der Toilette.«
Die Hände in den Taschen, ging Will den Korridor entlang. Vor der Damentoilette blieb er stehen und schob die Tür mit dem Fuß auf. Er streckte den Kopf hinein. Joelyn Zabel stand vor dem Spiegel. Sie hatte eine brennende Zigarette in der Hand, und sie erschrak, als sie Will sah.
» Sie dürfen nicht hier drinnen sein«, blaffte sie und hob die Faust, als erwartete sie einen Kampf.
» Rauchen ist in diesem Gebäude nicht erlaubt.« Will betrat den Raum und lehnte sich, die Hände noch immer in den Taschen, an die geschlossene Tür.
» Was wollen Sie hier drinnen?«
» Nur nachsehen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist.«
Sie zog kräftig an der Zigarette. » Indem Sie in die Damentoilette stürmen? Für Sie ist hier der Zutritt verboten. Das dürfen Sie nicht.«
Will schaute sich um. Er war zuvor noch nie in einer Damentoilette gewesen. Es gab eine bequem aussehende Couch mit Blumen in einer Vase auf einem Tischchen daneben. Die Luft roch nach Parfum, die Handtuchspender waren gefüllt, und der Rand des Waschbeckens war nicht mit Wasser verspritzt, sodass die Vorderseite der Hose nass wurde, wenn man sich die Hände wusch. Kein Wunder, dass Frauen so viel Zeit an solchen Orten verbrachten.
» Hallo?«, fragte Joelyn. » Verrückter Mann? Verschwinden Sie aus der Damentoilette.«
» Warum sagen Sie es mir nicht?«
» Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«
Er schüttelte den Kopf. » Hier drinnen laufen keine Kameras. Keine Anwälte, kein Publikum. Sagen Sie mir, was Sie mir nicht gesagt habe.«
» Leck mich.«
Er spürte, wie die Tür leicht gegen seinen Rücken gedrückt wurde und sich dann ebenso schnell wieder schloss. Er sagte: » Sie mochten Ihre Schwester nicht.«
» Ach wirklich, Sherlock?« Ihre Hand zitterte, als sie noch einen kräftigen Zug von ihrer Zigarette nahm.
» Was hat sie Ihnen angetan?«
» Sie war eine Zicke.«
Dasselbe konnte man von Joelyn auch sagen, aber Will behielt es für sich. » Hat sich das Ihnen gegenüber auf irgendeine spezielle Art manifestiert, oder ist das nur eine allgemeine Feststellung?«
Sie starrte ihn an. » Was, zum Teufel, soll das heißen?«
» Es heißt, dass es mir egal ist, was Sie tun, wenn Sie von hier weggehen. Verklagen Sie den Staat. Verklagen Sie den Staat nicht. Verklagen Sie mich persönlich. Das ist mir egal. Wer Ihre Schwester umgebracht hat, hat jetzt wahrscheinlich eine andere – eine Frau, die genau in diesem Augenblick gequält und vergewaltigt wird –, und dass Sie mir etwas vorenthalten, ist nichts anderes, als zu sagen, dass das, was mit dieser anderen Frau passiert, okay ist.«
» Kommen Sie mir nicht so.«
» Dann sagen Sie mir, was Sie verheimlichen.«
» Ich verheimliche gar nichts.« Sie drehte sich vom Spiegel weg und wischte sich mit den Fingern unter den Augen entlang, um ihr Make-up nicht zu verschmieren. » Es war Jackie, die etwas verheimlichte.«
Will blieb stumm.
» Sie war immer eine Geheimniskrämerin, verhielt sich immer so, als wäre sie was Besseres als ich.«
Er nickte, als würde er verstehen.
» Sie bekam die ganze Aufmerksamkeit, alle Jungs.« Sie schüttelte den Kopf und drehte sich Will zu. Sie lehnte sich an den Waschtisch, stützte die Hand neben das Becken. » Als ich jung war, ging mein Gewicht dauernd auf und ab. Wenn wir zum
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