Sara Linton 01 - Tote Augen
von seiner gerunzelten Stirn bis zu der Art, wie er die Hände vor dem leichten Schmerbauch rang. Er war ein Durchschnittstyp, mit schütteren Haaren und hängenden Schultern. Faith vermutete, er hatte einen Beruf, bei dem er mehr als acht Stunden vor dem Computer sitzen musste.
» Sind Sie die Polizeibeamten, mit denen ich gesprochen habe?«, fragte der Mann abrupt. Doch dann schien er zu merken, wie barsch er geklungen hatte, und fing noch einmal von vorn an. » Tut mir leid, ich bin Michael Tanner, Olivias Bruder. Sind Sie von der Polizei?«
» Ja, Sir.« Faith zog ihren Ausweis heraus. Sie stellte sich und Will vor. » Haben Sie einen Schlüssel für das Haus Ihrer Schwester?«
Michael schien zugleich besorgt und verlegen zu sein, als könnte das alles nur ein Missverständnis sein. » Ich weiß nicht so recht, ob wir das tun sollten. Olivia legt großen Wert auf ihre Privatsphäre.«
Faith warf Will einen kurzen Blick zu. Noch eine Frau, die gern Grenzen zog.
Will schlug vor: » Wir können einen Schlosser rufen, wenn es nötig ist. Es ist wichtig, dass wir ins Haus kommen, für den Fall, dass irgendwas passiert ist. Olivia könnte gestürzt sein oder …«
» Ich habe einen Schlüssel.« Michael griff in die Tasche und zog einen einzelnen Schlüssel an einem Elastikband heraus. » Sie hatte ihn mir vor drei Monaten geschickt. Ich weiß nicht, warum. Sie wollte einfach, dass ich ihn habe. Ich vermute, weil sie wusste, dass ich ihn nie benutzen würde. Vielleicht sollte ich ihn auch nicht benutzen.«
Will sagte: » Sie wären nicht den langen Weg von Houston hierhergeflogen, wenn Sie nicht glauben würden, dass irgendwas nicht stimmt.«
Michael wurde weiß im Gesicht, und Faith konnte erahnen, wie die letzten Stunden seines Lebens für ihn gewesen sein mussten – die Fahrt zum Flughafen, der Flug, ein Auto mieten. Und die ganze Zeit dachte er daran, dass er sich lächerlich machte, dass es seiner Schwester gut ging. Und im Hinterkopf hatte er ständig das Gefühl, dass wahrscheinlich genau das Gegenteil stimmte.
Michael gab Will den Schlüssel. » Der Polizist, mit dem ich gestern sprach, sagte, er würde einen Uniformierten schicken, der an die Tür klopft.« Er hielt inne, als wollte er von ihnen die Bestätigung, dass das tatsächlich passiert war. » Ich hatte Angst, dass man mich nicht ernst nimmt. Ich weiß, dass Olivia eine erwachsene Frau ist, aber sie ist ein Gewohnheitstier und weicht nie von ihrer Routine ab.«
Will schloss die Tür auf und betrat das Haus. Faith hielt den Bruder auf dem Treppchen zurück. » Was ist ihre Routine?«
Er schloss kurz die Augen, wie um sich zu sammeln. » Sie arbeitet in einer Privatbank in Buckhead, und das seit fast zwanzig Jahren. Sie geht sechs Tage die Woche rein – jeden Tag außer Montag, da geht sie shoppen und erledigt die anderen Besorgungen: Reinigung, Bibliothek, Lebensmittelladen. Punkt acht Uhr ist sie in der Bank und verlässt sie meistens auch wieder um acht, außer an Abenden mit irgendeiner Veranstaltung. Ihr Job ist die Öffentlichkeitsarbeit. Wenn es eine Party gibt oder eine Wohltätigkeitsveranstaltung oder irgendwas, das die Bank sponsert, muss sie dabei sein. Ansonsten ist sie immer zu Hause.«
» Hat die Bank Sie angerufen?«
Er hob die Hand an die Kehle und rieb sich eine grell rote Narbe. Faith vermutete, dass er einen Luftröhrenschnitt oder sonst eine Halsoperation gehabt hatte.
Er sagte: » Die Bank hat meine Telefonnummer nicht. Ich rief dort an, als ich gestern Morgen nichts von Olivia hörte. Und ich rief nach der Landung noch mal an. Sie haben keine Ahnung, wo sie ist. Sie hat zuvor noch nie gefehlt.«
» Haben Sie ein neueres Foto von Ihrer Schwester?«
» Nein.« Erst jetzt schien ihm klar zu werden, warum sie das Foto brauchten. » Tut mir leid. Olivia ließ sich nur äußerst ungern fotografieren. Immer schon.«
» Das ist okay«, beruhigte ihn Faith. » Wenn nötig, kopieren wir das Foto aus ihrem Führerschein.«
Will kam die Stufen herunter. Er schüttelte den Kopf, und Faith führte den Mann ins Haus. Sie versuchte ein wenig Smalltalk, sagte zu Michael: » Das ist ein sehr schönes Haus.«
» Ich habe es noch nie gesehen«, gestand er. Er schaute sich um wie Faith und dachte wahrscheinlich dasselbe wie sie: Es sah aus wie in einem Museum. Die Eingangshalle reichte nach hinten bis zur Küche, in der weiße Marmor-Arbeitsflächen und weiße Schränke glänzten. Die Treppe war mit einem weißen Läufer belegt,
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