Sara Linton 01 - Tote Augen
und das Wohnzimmer war ähnlich spartanisch eingerichtet; alles – von den Wänden über die Möbel bis zu dem Teppich auf dem Boden – war jungfräulich weiß. Sogar die Kunst an den Wänden bestand aus weißen Leinwänden in weißen Rahmen.
Michael fröstelte. » Es ist so kalt hier drinnen.«
Faith wusste, dass er nicht die Temperatur meinte.
Sie führte die beiden Männer ins Wohnzimmer. Es gab eine Couch und zwei Sessel, aber sie wusste nicht, ob sie sich setzen oder stehen bleiben sollte. Schließlich nahm sie auf der Couch Platz, deren Polsterung so hart war, dass sie unter ihrem Gewicht kaum nachgab. Will setzte sich in den Sessel neben ihr und Michael begab sich ans andere Ende der Couch.
Sie sagte: » Fangen wir ganz am Anfang an, Mr Tanner.«
» Doktor«, sagte er und runzelte dann die Stirn. » Tut mir leid. Das ist unwichtig. Bitte nennen Sie mich Michael.«
» Nun gut, Michael.« Da Faith spürte, dass er kurz vor einer Panik stand, bemühte sie sich um eine ruhige, besänftigende Stimme. » Sie sind Arzt?«
» Radiologe.«
» Sie arbeiten in einem Krankenhaus?«
» Das Methodist Breast Center.« Er blinzelte, und sie merkte, dass er versuchte, nicht zu weinen.
Faith kam gleich zur Sache. » Was brachte Sie dazu, gestern die Polizei anzurufen?«
» Olivia ruft mich inzwischen jeden Tag an. Früher war das nicht so. Viele Jahre lang standen wir uns nicht sehr nahe, dann ging sie aufs College, und wir entfernten uns noch weiter voneinander.« Er lächelte schwach. » Vor zwei Jahren bekam ich Krebs. Die Schilddrüse.« Er strich sich wieder über die Narbe an seiner Kehle. » Habe einfach eine Leere gespürt?« Er sagte das als Frage, und Faith nickte, als würde sie verstehen. » Ich wollte mit meiner Familie zusammen sein. Ich wollte Olivia wieder in meinem Leben haben. Ich wusste, es würde nur zu ihren Bedingungen laufen, aber ich war bereit, dieses Opfer zu bringen.«
» Und welche Bedingungen waren das?«
» Ich durfte sie nie anrufen. Sie war immer diejenige, die mich anrief.«
Faith wusste nicht so recht, was sie dazu sagen sollte. Will fragte: » Gab es ein bestimmtes Muster für diese Anrufe?«
Michael nickte, als sei er froh, dass endlich irgendjemand verstand, warum er sich solche Sorgen machte. » Ja. Sie hat mich in den letzten achtzehn Monaten jeden einzelnen Tag angerufen. Manchmal sagt sie nicht viel, aber egal, was los ist, sie ruft jeden Morgen zur selben Zeit an.«
Will fragte: » Warum sagt sie nicht viel?«
Michael schaute auf seine Hände hinunter. » Es ist schwer für sie. Während wir aufwuchsen, musste sie einiges durchmachen. Sie ist niemand, der an das Wort › Familie ‹ denkt und lächelt.« Er rieb sich wieder die Narbe, und Faith spürte eine tiefe Traurigkeit von ihm ausgehen. » Im Grunde genommen lächelt sie über kaum etwas.«
Will schaute Faith kurz an, um sich zu versichern, dass es für sie okay war, wenn er übernahm. Sie nickte knapp. Offensichtlich war Michael Tanner entspannter, wenn er mit Will sprach. Jetzt hatte sie nur noch die Aufgabe, mit dem Hintergrund zu verschmelzen.
Will fragte: » Ihre Schwester war kein glücklicher Mensch?«
Michael schüttelte langsam den Kopf, seine Traurigkeit füllte das ganze Zimmer.
Will schwieg einen Augenblick, um dem Mann ein wenig Ruhe zu gewähren. » Wer missbrauchte sie?«
Faith war schockiert über die Frage, aber die Tränen, die aus Michaels Augen quollen, zeigten ihr, dass Will genau ins Schwarze getroffen hatte. » Unser Vater. War ja damals fast ein Klischee.«
» Wann?«
» Unsere Mutter starb, als Olivia acht Jahre alt war. Ich schätze, kurz danach fing es an. Es lief ein paar Monate, bis Olivia bei einem Arzt landete. Sie war verletzt. Der Arzt meldete es, aber mein Vater sagte einfach …« Die Tränen liefen Michael übers Gesicht. » Mein Vater sagte, sie hätte sich mit Absicht selber wehgetan. Dass sie sich da … da unten was reingesteckt hätte, um sich zu verletzen.« Er wischte sich wütend die Tränen weg. » Mein Vater war Richter. Er kannte jeden bei der Polizei, und sie glaubten, ihn zu kennen. Er behauptete, Olivia würde lügen, also nahmen alle an, dass sie eine Lügnerin war – vor allem ich. Jahrelang glaubte ich ihr einfach nicht.«
» Was ließ Sie Ihre Meinung ändern?«
Er lachte humorlos auf. » Die Logik. Es ergab einfach keinen Sinn, dass sie so … dass sie so war, wie sie war, außer es war etwas Schreckliches passiert.«
Will schaute dem Mann weiter
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