Sara Linton 01 - Tote Augen
die Kirche oder …«
» Sie würde den Vatikan niederbrennen, wenn sie an den Wachen vorbeikommen würde.«
Will fragte: » Sagen Ihnen die Namen Jacquelyn Zabel, Pauline McGhee oder Anna irgendetwas?«
Er schüttelte den Kopf.
» Waren Sie oder Ihre Schwester je in Michigan?«
Er schaute sie verwundert an. » Nie. Ich meine, ich nicht. Olivia hat ihr ganzes Erwachsenenleben in Atlanta verbracht, aber vielleicht hat sie einmal einen Ausflug dorthin gemacht, von dem ich nichts weiß.«
Will versuchte eine andere Richtung. » Was ist mit dem Satz › Ich werde mir nichts versagen ‹? Sagt der Ihnen irgendwas?«
» Nein. Aber es ist das genaue Gegenteil davon, was Olivia in ihrem Leben macht. Sie versagt sich alles.«
» Was ist mit › Thinspo ‹ oder › Thinspiration ‹ ?«
Wieder schüttelte er den Kopf. » Nein.«
Faith übernahm. » Was ist mit Kindern? Hat Olivia Kinder? Oder will sie welche?«
» Das wäre rein körperlich unmöglich«, antwortete der Mann. » Ihr Körper … der Schaden, den sie an sich selbst anrichtete. Sie könnte unmöglich ein Kind austragen.«
» Sie könnte adoptieren.«
» Olivia hasste Kinder.« Er sprach so leise, dass Faith ihn kaum verstehen konnte. » Sie wusste, was mit ihnen passieren konnte.«
Will stellte die Frage, die Faith durch den Kopf ging. » Glauben Sie, sie hat es in letzter Zeit wieder getan – sich zum Hungern gezwungen?«
» Nein«, sagte Michael. » Zumindest nicht so wie früher. Das war der Grund, warum sie mich jeden Morgen pünktlich um sechs anrief, um mir zu sagen, dass sie okay sei. Manchmal griff ich zum Hörer, und sie redete mit mir, und manchmal sagte sie nur › Ich bin okay ‹ und legte wieder auf. Ich glaube, es war für sie eine Rettungsleine. Ich hoffe es zumindest.«
Faith sagte: » Aber gestern hat sie Sie nicht angerufen. Ist es möglich, dass sie wütend auf Sie war?«
» Nein.« Er wischte sich wieder die Augen. » Sie wurde nie wütend auf mich. Sie machte sich Sorgen um mich. Sie machte sich die ganze Zeit Sorgen um mich.«
Will nickte nur, deshalb fragte Faith: » Warum machte sie sich Sorgen?«
» Weil sie mich …« Michael brach ab und räusperte sich ein paar Mal.
Will sagte: » Weil Olivia Michael vor ihrem Vater schützte.«
Michael nickte wieder, und es wurde still im Zimmer. Er schien jetzt seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. » Glauben Sie …« Er beendete den Satz nicht. » Olivia würde ihre Routine nie ändern.«
Will schaute ihm direkt in die Augen. » Ich kann nett sein, oder ich kann ehrlich sein, Dr. Tanner. Es gibt hier nur drei Möglichkeiten. Eine ist, dass Ihre Schwester sich einfach aus dem Staub gemacht hat. Leute tun das. Sie würden sich wundern, wie oft das passiert. Die andere ist, dass sie einen Unfall hatte oder dass sie verletzt ist …«
» Ich habe die Krankenhäuser angerufen.«
» Auch die Atlanta Police hat das getan. Sämtliche Zugänge wurden geprüft, Ihre Schwester war nirgendwo dabei.«
Michael nickte, wahrscheinlich, weil er das bereits wusste. » Was ist die dritte Möglichkeit?«, fragte er leise.
» Jemand hat sie verschleppt«, antwortete Will. » Jemand, der ihr etwas antun will.«
Michaels Kehlkopf hüpfte. Lange starrte er seine Hände an, bevor er schließlich nickte. » Vielen Dank für Ihre Ehrlichkeit, Detective.«
Will stand auf. Er fragte: » Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns im Haus umsehen, die Sachen Ihrer Schwester durchsuchen?«
Der Mann schüttelte den Kopf, und Will sagte zu Faith: » Ich nehme mir den oberen Stock vor. Sie schauen hier unten nach.«
Er ließ ihr nicht die Zeit, über den Plan zu diskutieren, und Faith beschloss, nicht mit Will zu streiten, obwohl Olivia Tanner ihren privaten Computer wahrscheinlich oben hatte.
Sie ließ Michael Tanner im Wohnzimmer sitzen und ging in die Küche. Licht strömte durch die Fenster herein, was alles noch weißer wirken ließ. Die Küche war wunderschön, aber so steril wie der Rest des Hauses. Die Arbeitsflächen waren alle völlig leer bis auf den schmalsten Fernseher, den Faith je gesehen hatte. Sogar die Leitungen für Kabelanschluss und Stromversorgung waren versteckt, sie verschwanden in einem kleinen Loch im leicht gemaserten Marmor.
Im begehbaren Vorratsschrank gab es nur sehr wenig Nahrungsmittel. Was vorhanden war, war ordentlich aufgereiht, alle Schachteln mit der Front nach vorn, sodass man die Etiketten sah, die Dosen ebenfalls so gedreht, dass man den Inhalt ablesen konnte. Es gab
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