Sara Linton 01 - Tote Augen
direkt in die Augen. » Hat Ihr Vater Ihnen je was getan?«
» Nein.« Die Antwort kam zu schnell. » Nichts Sexuelles, meine ich. Manchmal bestrafte er mich. Zog den Gürtel aus der Hose. Er konnte ein brutaler Mann sein, aber ich dachte, Väter sind eben so. Es war normal. Schlägen ging man am besten aus dem Weg, indem man ein braver Sohn war, deshalb war ich ein braver Sohn.«
Wieder ließ Will sich Zeit mit der nächsten Frage. » Wie bestrafte sich Olivia für das, was passiert ist?«
Michael kämpfte mit seinen Gefühlen, versuchte, sie zu beherrschen, versagte aber kläglich. Schließlich drückte er sich Daumen und Zeigefinger an die Augen und schluchzte. Will saß einfach nur da. Faith machte es ihm nach. Sie wusste instinktiv, dass sie im Augenblick nichts Schlimmeres tun konnte, als Michael Tanner zu trösten.
Er benutzte die Handrücken, um sich die Tränen abzuwischen. Schließlich sagte er: » Olivia wurde Bulimikerin. Ich glaube, anorektisch ist sie noch immer, aber sie hat mir geschworen, dass sie das Reinigungsritual unter Kontrolle hat.«
Faith merkte, dass sie den Atem angehalten hatte. Olivia Tanner hatte eine Essstörung wie Pauline McGhee und Jackie Zabel.
Will fragte: » Wann fing das an?«
» Mit zehn oder elf Jahren. Ich weiß es nicht mehr. Ich bin drei Jahre jünger. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass es furchtbar war. Sie ist einfach … sie ist einfach immer weniger geworden.«
Will nickte nur und ließ den Mann weiterreden.
» Olivia war immer besessen von ihrem Aussehen. Sie war so hübsch, aber sie akzeptierte nie …« Michael hielt kurz inne. » Ich schätze, mein Daddy machte es noch schlimmer. Er zwickte sie immer, neckte sie, sagte ihr, sie müsse den Babyspeck endlich loswerden. Sie war nicht fett. Sie war ein normales Mädchen. Sie war schön. War schön. Wissen Sie, was passiert, wenn man sich zum Hungern zwingt?«
Michael schaute Faith an, aber sie schüttelte den Kopf.
» Sie bekam Druckstellen am Rücken. Große, klaffende Wunden, wo die Knochen Löcher in ihre Haut scheuerten. Sie konnte sich nie hinsetzen, es sich nie bequem machen. Sie fror die ganze Zeit, spürte ihre Hände und Füße nicht. An manchen Tagen hatte sie nicht einmal die Kraft, auf die Toilette zu gehen. Sie machte sich dann einfach in die Hose.« Er brach ab, als die Erinnerungen ihn offensichtlich wieder überwältigten. » Sie schlief zehn, zwölf Stunden pro Tag. Sie verlor ihre Haare. Sie bekam Krampfanfälle. Ihr Herz raste. Ihre Haut war … es war abstoßend. Schuppig, die trockenen Partikel flogen einfach von ihrem Körper weg. Und sie dachte, das sei es wert. Sie dachte, es mache sie schön.«
» Kam sie je in ein Krankenhaus?«
Er lachte, als könnten sie überhaupt nicht begreifen, wie schrecklich die Situation gewesen war. » Sie kam immer und immer wieder ins Houston General. Sie ernährten sie künstlich über Infusionen. Sie legte genug Gewicht zu, sodass man sie wieder aus dem Krankenhaus entlassen konnte, und kaum war sie draußen, fing sie wieder an, sich zu reinigen. Zweimal versagten ihre Nieren. Man machte sich große Sorgen um den Schaden, den sie an ihrem Herzen anrichtete. Damals war ich furchtbar wütend auf sie. Ich verstand nicht, warum sie sich selbst freiwillig etwas so Schreckliches antat. Es schien einfach so … warum zwingt sich irgendjemand zum Hungern? Warum unterwirft sich irgendjemand etwas so …« Er schaute sich in dem Zimmer um, dem kalten Ort, den seine Schwester für sich selbst geschaffen hatte. » Kontrolle. Sie wollte ganz einfach eine Sache kontrollieren, und diese eine Sache war das, was sie in ihren Mund steckte.«
Faith fragte: » Ging es ihr besser? Ich meine, in letzter Zeit?«
Er nickte und zuckte gleichzeitig die Achseln. » Die Sache besserte sich, als sie von meinem Vater wegkam. Aufs College ging, einen Wirtschaftsabschluss machte. Sie zog hierher nach Atlanta. Ich glaube, die Entfernung half ihr.«
» War sie in Therapie?«
» Nein.«
» Was ist mit einer Selbsthilfegruppe? Oder einem Online-Chatroom?«
Er schüttelte den Kopf, schien sich sehr sicher zu sein. » Olivia war überzeugt, dass sie keine Hilfe brauchte. Sie dachte, sie hätte alles unter Kontrolle.«
» Hatte sie Freunde oder …«
» Nein. Sie hatte niemanden.«
» Lebt Ihr Vater noch?«
» Er starb vor ungefähr zehn Jahren. Es war sehr friedlich. Jeder war glücklich, dass er einfach eingeschlafen ist.«
» Ist Olivia religiös? Sie geht nicht in
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