Sara Linton 01 - Tote Augen
Hand auf dem Bauch. Faith ließ sie sinken, dann stand sie einfach nur stumm da und lauschte auf etwas in ihrem Körper, wartete auf ein Zwicken oder Krampfen als Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte. Sie spürte nichts, hörte nichts. Aber war sie wirklich in Ordnung?
» Was ist das?«, fragte Will und zog etwas aus ihren Haaren. Er hielt ein Konfetti zwischen Daumen und Zeigefinger.
Faith strich sich mit den Fingern durch die Haare, schaute hinter sich. Im Gras erkannte sie winzige Konfettipartikel.
» Verdammt«, fluchte Will. » Auf Felix’ Büchertasche habe ich eines dieser Dinger gesehen. Das ist kein Konfetti. Das stammt von einem Taser.«
15 . Kapitel
S ara hatte keine Ahnung, warum sie an ihrem freien Tag im Grady war. Ihre Wäsche hatte sie nur zur Hälfte geschafft, die Küche war noch kaum wieder zu benutzen, und das Bad war in einem so üblen Zustand, dass sie sich schämte, sooft sie daran dachte.
Und doch war sie jetzt wieder im Krankenhaus und stieg die Treppen zum sechzehnten Stock hinauf, damit niemand sie zur Intensivstation schleichen sah.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie bei Anna keine gründlichere Untersuchung vorgenommen hatte, als man sie in die Notaufnahme gebracht hatte. Röntgenaufnahmen, Kernspin, Ultraschall, Ganzkörperuntersuchung. So ziemlich jeder Chirurg im Krankenhaus hatte die Frau unter den Händen gehabt, und alle hatten die elf Mülltüten übersehen. Man hatte sogar das Zentrum für Infektionskrankheiten gebeten, Kulturen der Infektionsabstriche anzulegen, doch das hatte nichts ergeben. Anna war gefoltert, geschnitten, aufgerissen worden – war geschädigt worden auf zahllose Arten, die wegen des Plastiks in ihr nicht abheilen konnten. Als Sara die Tüten entfernte, füllte der Gestank den Raum. Die Frau verfaulte von innen heraus. Es war fast ein Wunder, dass sie keinen toxischen Schock erlitten hatte.
Rein vom Verstand her wusste Sara, dass es nicht ihre Schuld war, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Während sie am Vormittag Wäsche zusammenlegte und Geschirr wusch, waren ihre Gedanken immer wieder zu jener Nacht zurückgekehrt, als Anna gebracht worden war. Sara sah sich selbst eine alternative Realität zusammenbasteln, in der sie mehr tun konnte, als die Frau nur dem nächsten Arzt zu übergeben. Sie musste sich wieder ins Gedächtnis rufen, dass sogar das Strecken des Körpers für die Röntgenaufnahmen Anna unerträgliche Schmerzen bereitet hatte. Saras Aufgabe war es gewesen, sie für die Chirurgie vorzubereiten, und nicht, eine komplette gynäkologische Untersuchung vorzunehmen.
Und dennoch fühlte sie sich schuldig.
Leicht außer Atem blieb Sara auf dem Absatz des sechsten Stocks stehen. Sie war vermutlich so fit wie noch nie in ihrem Leben, aber Laufband und Treppensteigen in ihrem Fitnessstudio waren kaum eine gute Vorbereitung auf das wirkliche Leben. Schon im Januar hatte sie sich geschworen, dass sie mindestens ein Mal pro Woche draußen laufen würde. Das Studio in der Nähe ihres Wohnblocks mit seinen Fernsehern und Trainingsgeräten und der wohltemperierten Atmosphäre negierte einen der wichtigsten Vorteile des Laufens: Zeit allein mit sich selbst. Natürlich konnte man leicht sagen, man wolle Zeit allein mit sich selbst, viel schwieriger aber war es, das tatsächlich in die Tat umzusetzen. Aus Januar war Februar geworden, und jetzt war es bereits April, doch heute Morgen war Sara zum allerersten Mal, seit sie es sich vorgenommen hatte, wirklich draußen gelaufen.
Sie griff nach dem Geländer und nahm die nächste Treppe in Angriff. Im zehnten Stock brannten ihre Oberschenkel. Im sechzehnten musste sie stehen bleiben und sich vorbeugen, um wieder zu Atem zu kommen, damit die Schwestern in der Intensivstation nicht glaubten, sie hätten eine Wahnsinnige in ihrer Mitte.
Sie steckte die Hand in die Tasche, um ihren Labello herauszuziehen, hielt dann aber inne. Panik stieg in ihr auf, als sie auch die anderen Taschen durchsuchte. Der Brief war nicht da. Sie trug ihn schon seit einer Ewigkeit bei sich, ein Talisman, den sie jedes Mal berührte, wenn sie an Jeffrey dachte. Er erinnerte sie immer an die verhasste Frau, die ihn geschrieben hatte, die Person, die verantwortlich war für seinen Tod, und jetzt war er nicht mehr da.
Saras Gedanken rasten, als sie sich überlegte, wo er sein könnte. Hatte sie ihn in der Schmutzwäsche mitgewaschen? Bei diesem Gedanken machte ihr Herz einen Satz. Schließlich
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