Sara Linton 01 - Tote Augen
fiel ihr wieder ein, dass sie den Brief auf die Küchenanrichte gelegt hatte, als sie von Jacquelyn Zabels Autopsie nach Hause gekommen war.
Sie atmete erleichtert auf. Der Brief war zu Hause. Sie hatte ihn heute Morgen auf den Kaminsims gestellt, was ihr jetzt als merkwürdiger Platz dafür vorkam. Dort lag Jeffreys Ehering, daneben stand die Urne mit einem Teil seiner Asche. Diese beiden Dinge und der Brief sollten nicht so dicht beieinander sein. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Die Tür ging auf, und eine Schwester kam mit einem Päckchen Zigaretten in der Hand heraus. Sara erkannte Jill Marino, die Intensivschwester, die sich am gestrigen Morgen um Anna gekümmert hatte.
Jill fragte: » Haben Sie heute nicht frei?«
Sara zuckte die Achseln. » Kann von dem Laden einfach nicht genug bekommen. Wie geht es ihr?«
» Die Infektion reagiert auf Antibiotika. Übrigens, klasse Leistung. Wenn Sie diese Tüten nicht herausgeholt hätten, wäre sie jetzt tot.«
Sara tat das Kompliment mit einem Nicken ab, denn sie dachte sich, wenn sie die Dinger gleich bemerkt hätte, dann hätte Anna noch viel größere Überlebenschancen.
» Der Beatmungsschlauch wurde gegen fünf entfernt.« Jill hielt Sara die Tür auf. » Die Ergebnisse der Hirnuntersuchung sind auch schon da. Alles sieht gut aus bis auf die Schädigung des Sehnervs. Das ist permanent. Die Ohren sind okay, also kann sie wenigstens noch hören. Alles andere ist in Ordnung. Es gibt eigentlich keinen Grund, warum sie nicht aufwacht.« Sie schien zu merken, dass die Frau Unmengen von Gründen hatte, nicht aufzuwachen, und fügte hinzu: » Na ja, Sie wissen, was ich meine.«
» Schon Feierabend?«
Jill deutete schuldbewusst auf die Zigaretten. » Nur schnell hoch aufs Dach, um die gute Luft zu verpesten.«
» Sollte ich meinen Atem verschwenden und Ihnen sagen, dass diese Dinger Sie irgendwann umbringen?«
» Die Arbeit hier bringt mich eher um«, entgegnete die Schwester, drehte sich um und ging langsam die Treppe hoch.
Noch immer bewachten zwei Polizisten Annas Zimmer. Nicht dieselben wie gestern, aber sie tippten sich beide grüßend an die Mütze, als sie Sara sahen. Einer zog für sie sogar den Vorhang zurück. Sara lächelte zum Dank, als sie das Zimmer betrat. Auf dem Tisch an der Wand stand ein wunderschönes Blumenarrangement. Sara suchte in dem Strauß nach einer Karte, fand aber keine.
Sie setzte sich auf den Stuhl und dachte über die Blumen nach. Wahrscheinlich war jemand entlassen worden und hatte die Blumen den Schwestern gegeben, damit sie sie nach Gutdünken verteilten. Sie sahen allerdings frisch aus, als hätte sie jemand in irgendeinem Nachbargarten gepflückt. Vielleicht hatte Faith sie geschickt. Sara verwarf den Gedanken schnell wieder. Faith Mitchell kam ihr nicht besonders gefühlsbetont vor. Und sie war auch nicht sehr schlau – zumindest nicht, was ihre Gesundheit betraf. Sara hatte heute Morgen in Delia Wallaces Praxis angerufen. Faith hatte noch keinen Termin vereinbart. Bald würde ihr das Insulin ausgehen. Sie müsste entweder einen weiteren Ohnmachtsanfall riskieren oder noch einmal zu Sara kommen.
Sie stützte die Unterarme aufs Bett und schaute Anna ins Gesicht. Ohne den Beatmungsschlauch sah man eher, wie sie ausgesehen hatte, bevor das alles passiert war. Die blauen Flecken auf ihrem Gesicht klangen langsam ab, was bedeutete, dass sie jetzt schlimmer aussahen als tags zuvor. Ihre Haut hatte einen etwas gesunderen Ton, aber sie war aufgequollen von all den Flüssigkeiten, die man ihr einflößte. Die Unterernährung war so deutlich zu sehen, dass es Wochen dauern würde, bis die Knochen wieder unter einer gesunden Schicht Fleisch verschwanden.
Sara nahm die Hand der Frau, befühlte ihre Haut. Sie war noch immer trocken. In einem Beutel neben den Blumen fand sie eine Tube Lotion. Es war die Standardausrüstung, die im Krankenhaus immer ausgegeben wurde, Sachen, von denen irgendein Verwaltungsausschuss meinte, dass Patienten sie brauchen – rutschfeste Socken, Lippenbalsam und eine Lotion, die leicht antiseptisch roch. Sara drückte sich etwas davon auf die Handfläche und rieb die Hände aneinander, um die Lotion zu wärmen, bevor sie Annas zerbrechliche Hand in ihre nahm. Sie spürte jeden Fingerknochen, die Knöchel fühlten sich an wie Murmeln. Annas Haut war so trocken, dass die Lotion einzog, kaum dass Sara sie aufgetragen hatte. Sie drückte sich gerade ein wenig mehr auf die Handfläche, als Anna sich
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