Sara Linton 01 - Tote Augen
Insulin-Pens entgegen. Sie schloss die Tür wieder und sagte zu Faith: » Sie müssen das ernst nehmen.«
» Ich weiß.«
» Es auf die lange Bank zu schieben, funktioniert nicht. Nehmen Sie sich zwei Stunden Zeit für einen Besuch bei Delia, damit Sie das in den Griff bekommen und sich wieder auf Ihre Arbeit konzentrieren können.«
» Werde ich.«
» Stimmungsschwankungen, plötzliche Gereiztheit – das sind alles Symptome Ihrer Krankheit.«
Faith kam sich vor, als hätte ihre Mutter sie eben geschimpft, aber vielleicht brauchte sie im Augenblick genau das. » Danke.«
Sara legte die Hand wieder an die Wiege. » Ich überlasse es Ihnen.«
» Einen Augenblick noch«, sagte Faith. » Sie haben doch viel mit jungen Mädchen zu tun, nicht?«
Sara zuckte die Achseln. » Früher viel mehr, als ich noch meine eigene Praxis hatte. Warum?«
» Was wissen Sie über Thinspo?«
» Nicht viel«, gab die Ärztin zu. » Ich weiß, das ist ein Wort für Proanorexie-Propaganda, normalerweise im Internet.«
» Drei unserer Opfer haben eine Verbindung dazu.«
» Anna ist noch immer sehr dünn«, bemerkte Sara. » Leber und Nieren funktionieren nicht richtig, aber ich dachte, das kommt von dem, was sie durchgemacht hat, nicht von etwas, das sie sich selbst angetan hat.«
» Könnte sie Anorektikerin sein?«
» Möglich ist es. Wegen ihres Alters habe ich an diese Störung überhaupt nicht gedacht. Anorexie ist im Allgemeinen ein Teenager-Problem.« Sie überlegte kurz und sagte dann: » Pete hat bei Jacquelyn Zabels Autopsie etwas Ähnliches erwähnt. Sie war sehr dünn, andererseits wurden ihr mindestens zwei Wochen lang Nahrung und Wasser vorenthalten. Und sie war zierlich gebaut.« Sie bückte sich zu Balthazar und streichelte seine Wange. » Anna hätte kein Baby bekommen können, wenn sie sich zum Hungern gezwungen hätte. Nicht ohne ernsthafte Komplikationen.«
» Vielleicht hatte sie es lange genug unter Kontrolle, um ihn zu bekommen«, vermutete Faith. » Ich weiß nie so genau, was was ist – ist Anorexie das, wo man sich den Finger in den Mund steckt?«
» Das ist Bulimie. Anorexie bedeutet Hungern. Manchmal benutzen Anorektiker Abführmittel, aber sie reinigen sich nicht. Es gibt immer stärkere Hinweise auf eine genetische Bestimmung – Chromosomenschäden, die einen für diese Störung empfänglich machen. Normalerweise gibt es dann irgendeinen Umwelteinfluss, der die Krankheit zum Ausbruch bringt.«
» Wie Kindesmissbrauch?«
» Könnte sein. Manchmal sind es Einschüchterungen. Manchmal ist es eine körperliche Fehlfunktion. Einige Leute geben Zeitschriften und Filmstars die Schuld, aber es ist viel komplexer. Auch Jungs leiden inzwischen immer häufiger darunter. Wegen der psychologischen Komponente ist es extrem schwer zu behandeln.«
Faith dachte über ihre Opfer nach. » Gibt es einen bestimmten Persönlichkeitstyp, der dafür eher anfällig ist?«
Sara überlegte sich die Antwort gut. » Ich kann Ihnen nur sagen, dass den Handvoll Patienten, die ich behandelt habe und die an dieser Störung litten, das Hungern ein extremes Vergnügen bereitete. Es erfordert eine enorme Willenskraft, um gegen das physiologische Essensbedürfnis des Körpers anzukämpfen. Oft fühlen sie sich, als wäre alles andere in ihrem Leben aus den Fugen, und das Einzige, was sie noch selbst bestimmen können, ist, ob sie sich Essen in den Mund schieben oder nicht. Es gibt auch eine körperliche Reaktion aufs Hungern – leichtes Schwindelgefühl, Euphorie, manchmal Halluzinationen. Es kann ein ähnliches Hochgefühl erzeugen, wie man es von Opiaten kennt, und dieses Gefühl kann stark suchterzeugend sein.«
Faith überlegte, wie oft sie schon Witze darüber gerissen hatte, wie gerne sie die Willenskraft hätte, wenigstens für eine Woche anorektisch zu sein.
Sara fügte hinzu: » Das größte Problem bei der Behandlung ist, dass es für Frauen gesellschaftlich akzeptierter ist, dünn zu sein, als übergewichtig zu sein.«
» Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die mit ihrem Gewicht zufrieden ist.«
Sara lachte wehmütig auf. » Um ehrlich zu sein, meine Schwester.«
» Ist sie eine Heilige?«
Faith hatte das als Witz gemeint, doch Sara überraschte sie mit der Antwort: » Fast. Sie ist Missionarin. Vor ein paar Jahren hat sie einen Prediger geheiratet. Sie helfen AIDS -Babys in Afrika.«
» O Gott, ich hasse sie, und ich kenne sie überhaupt nicht.«
» Glauben Sie mir, sie hat ihre Fehler«, gestand Sara. »
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