Sara Linton 01 - Tote Augen
ganzen Körper um ihn geschlungen wie eine Decke. » Da war so viel Blut.«
Es war über ihre Arme getropft, auf ihre Beine, ihre Füße.
Sie hatte ihn so fest an sich gedrückt, dass er nicht atmen konnte, und er hatte sie so sehr geliebt, weil er wusste, sie verstand, warum er es tat, warum er den Wahnsinn stoppen musste, der um ihn herum passierte. Jede Narbe auf seinem Körper, jede Verbrennung, jeder Bruch – Angie wusste darüber Bescheid, so wie sie über sich selbst Bescheid wusste. Jedes Geheimnis, das Will hatte, bewahrte Angie irgendwo tief in sich. Sie bewahrte es mit ihrem Leben.
Sie war sein Leben.
Er schluckte, doch sein Mund war noch immer ohne Speichel. » Wie lange?«
Sie legte ihre Hand auf seinen Bauch. Sie wusste, sie hatte ihn wieder, wusste, sie schaffte es mit einem Fingerschnippen. » Wie lange was, Baby?«
» Wie lange willst du, dass ich dich liebe?«
Sie antwortete nicht sofort, und er wollte bereits noch einmal fragen, als sie sagte: » Ist das nicht ein Country-Song?«
Er drehte sich zu ihr um und suchte in ihren Augen nach einem Gefühl, das er noch nie bei ihr gesehen hatte. » Sag mir einfach, wie lange, damit ich die Tage zählen kann und weiß, wann es endlich zu Ende ist.«
Angie strich ihm mit der Hand übers Gesicht.
» Fünf Jahre? Zehn Jahre?« Seine Kehle schwoll zu, als hätte er Glas schlucken müssen. » Sag’s mir einfach, Angie. Wie lange noch, bis ich aufhören kann, dich zu lieben?«
Sie beugte sich zu ihm und legte ihm wieder den Mund ans Ohr. » Nie.«
Sie stemmte sich vom Boden hoch, strich sich den Rock glatt, raffte Schuhe und Slip zusammen. Will lag einfach da, als sie die Tür öffnete und ging, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er machte ihr keinen Vorwurf. Angie schaute nie zurück. Sie wusste, was hinter ihr lag, so wie sie immer wusste, was vor ihr lag.
Will stand nicht auf, als er ihre Schuhe auf den Verandastufen hörte oder ihr Auto in der Einfahrt. Er stand nicht auf, als er Betty an der Hundeklappe kratzen hörte, weil er vergessen hatte, sie für sie aufzumachen. Will rührte sich nicht. Die ganze Nacht lag er auf dem Boden, bis die Sonne, die durch die Fenster hereinströmte, ihm sagte, dass es wieder Zeit war, zur Arbeit zu gehen.
VIERTER TAG
20 . Kapitel
P auline hatte Hunger, aber damit konnte sie umgehen, sie verstand die Schmerzen im Magen und im Gedärm, die Krämpfe, die ihre Eingeweide durchzuckten, wenn sie sich auf irgendeine Art von Nahrung stürzten. Sie kannte das alles sehr gut, und sie konnte damit umgehen. Der Durst war etwas anderes. Durst konnte man nicht verdrängen. Sie hatte es noch nie lange ohne Wasser ausgehalten. Sie war verzweifelt, bereit, alles zu tun. Sie hatte sogar auf den Boden gepinkelt und versucht, den Urin zu trinken, aber das machte sie nur noch durstiger, sodass sie danach auf den Knien hockte und heulte wie ein Wolf.
Genug. Sie konnte nicht so lange in diesem dunklen Loch bleiben. Sie konnte nicht zulassen, dass das Grauen sie noch einmal überwältigte und so umschloss, dass sie sich nur noch zusammenrollen und an Felix denken wollte.
Felix. Er war der einzige Grund, warum sie hier hinauswollte, kämpfen wollte, das Arschloch stoppen wollte, das sie von ihrem kleinen Jungen trennte.
Sie lag auf der Seite, die Füße ausgestreckt, die Arme an die Taille gefesselt. Sie hob den Oberkörper und straffte die Halsmuskeln, damit sie den Kopf gerade halten konnte. So blieb sie einen Augenblick, schwitzend, alle Muskeln angespannt, die Augenbinde rau auf der Haut. Sie zielte. Sie zitterte vor Anstrengung, die Kette klirrte an den Handgelenken, und ohne es zu wollen, bog sie den Kopf zurück und rammte ihn gegen die Wand.
Schmerz schoss ihr in den Nacken. Sie sah Sterne – wirklich Sterne –, die ihr vor den Augen tanzten. Keuchend fiel sie auf den Rücken, versuchte, nicht zu hyperventilieren, nicht ohnmächtig zu werden.
» Was tust du?«, fragte die andere Frau.
Die blöde Kuh lag seit zwölf Stunden auf dem Rücken wie eine Leiche, völlig apathisch, ohne jede Reaktion, und jetzt stellte sie diese Frage.
» Schnauze«, zischte Pauline. Für diese Scheiße hatte sie keine Zeit. Sie legte sich wieder auf die Seite, drückte sich an die Wand, rutschte ein paar Zentimeter nach unten. Sie hielt den Atem an, kniff die Augen zusammen und schlug den Kopf wieder gegen die Wand.
» Scheiße!«, schrie sie, als in ihrem Kopf der Schmerz explodierte. Sie fiel wieder auf den Rücken. Sie hatte Blut auf
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