Sara Linton 01 - Tote Augen
Die Arbeit war nicht mehr wichtig. Nichts war noch wichtig. Die E-Mail stammte aus einem anderen Leben, einem Leben, in dem Pauline einen Job hatte, den sie behalten wollte, eine Hypothek, die Abzahlung für das Auto. Sie warteten hier unten, dass sie vergewaltigt, gefoltert, ermordet würden, und diese Frau zerbrach sich den Kopf über eine verdammte E-Mail?
Mia sagte: » Ich konnte Michael, meinen Bruder, nicht mehr anrufen. Vielleicht sucht er nach mir.«
» Er wird dich nicht finden«, entgegnete Pauline. » Nicht hier draußen.«
» Wo sind wir?«
» Ich weiß es nicht«, antwortete sie – die Wahrheit. » Ich bin im Kofferraum eines Autos aufgewacht. Ich war gefesselt. Ich weiß nicht, wie lange ich da drin war. Der Kofferraum ging auf. Ich fing an zu schreien, und er hat mich wieder mit dem Taser betäubt.« Sie schloss die Augen. » Dann bin ich hier aufgewacht.«
» Ich war in meinem Garten«, erzählte Mia ihr. » Ich hörte etwas. Ich dachte, vielleicht eine Katze …« Sie verstummte kurz. » Wieder aufgewacht bin ich dann auch in einem Kofferraum. Ich weiß nicht, wie lange ich da drin war. Es fühlte sich an wie Tage. Erst habe ich versucht, die Stunden zu zählen, aber …« Sie fiel in ein langes Schweigen, das Pauline nicht interpretieren konnte. Schließlich sagte sie: » Glaubst du, dass er uns dort gefunden hat – in diesem Chatroom?«
» Wahrscheinlich«, log sie. Pauline wusste, wie er sie gefunden hatte, und es war nicht dieser verdammte Chatroom gewesen. Es war Pauline, die sie hierhergebracht hatte – Paulines große Klappe hatte sie in Schwierigkeiten gebracht. Sie hatte nicht vor, Mia zu sagen, was sie wusste. Es würden weitere Fragen kommen und mit den Fragen Vorwürfe, mit denen sie nicht würde umgehen können, das wusste sie ganz genau.
Nicht jetzt, da ihr Hirn sich anfühlte wie mit Watte ausgestopft und das Blut ihr in die Augen tropfte wie die winzigen, haarigen Beine einer Million Spinnen.
Pauline atmete tief durch, um zu verhindern, dass sie noch einmal ausflippte. Sie dachte an Felix, daran, wie er roch, wenn sie ihn mit der neuen Seife badete, die sie während einer Mittagspause am Colony Square gekauft hatte.
Mia fragte: » Sie ist noch im Safe, nicht? Sie werden die E-Mail im Safe finden, und dann wissen sie, dass du dem Polsterer gesagt hast, er soll den Aufzug ausmessen.«
» Du blöde Kuh, das ist doch jetzt nicht mehr wichtig. Verstehst du denn nicht, wo wir sind, was mit uns passieren wird? Was soll’s denn, wenn sie die E-Mail finden? Das ist vielleicht ein Trost. › Sie ist tot, aber sie hatte die ganze Zeit recht. ‹ «
» Mehr, als du im Leben bekommen hast.«
Einen Augenblick schwiegen sie in gegenseitigem Mitleid. Pauline überlegte, was sie über Mia eigentlich wusste. Die Frau schrieb nicht viel in das Forum, aber wenn sie es tat, war sie immer ziemlich präzise. Wie Pauline und ein paar andere Teilnehmer mochte Mia keine Jammerer, und sie ließ sich nichts gefallen.
» Er wird es nicht schaffen, uns auszuhungern«, sagte Mia. » Ich schaffe neunzehn Tage, bevor mein System kollabiert.«
Pauline war beeindruckt. » Ich schaffe ungefähr dasselbe«, log sie. Ihr Maximum waren zwölf Tage gewesen, und dann hatten sie sie ins Krankenhaus gesteckt und sie gemästet wie einen Thanksgiving-Truthahn.
Mia sagte: » Wasser ist das Problem.«
» Ja«, sagte Pauline. » Wie lange schaffst du es …«
» Ohne Wasser habe ich es noch nie probiert«, unterbrach Mia sie, um die Antwort vorwegzunehmen. » Es hat keine Kalorien.«
» Vier Tage«, sagte Pauline. » Ich habe irgendwo gelesen, dass man es nur ungefähr vier Tage aushält.«
» Wir halten es länger aus.« Das war keine Wunschvorstellung. Wenn Mia neunzehn Tage ohne Essen auskommen konnte, dann konnte sie es auch mit Sicherheit länger als Pauline ohne Wasser aushalten.
Das war das Problem. Sie konnte Pauline überleben. Bis jetzt hatte das noch nie jemand geschafft.
Mia stellte die offensichtliche Frage. » Warum hat er uns nicht gefickt?«
Pauline drückte den Kopf an den kalten Betonboden, um die Panik zu bekämpfen, die in ihr aufwallte. Das Ficken war nicht das Problem. Es waren die anderen Sachen – die Spielchen, der Hohn, die Tricks … die Mülltüten.
» Er will uns schwach«, vermutete Mia. » Er will sicher sein, dass wir uns nicht mehr wehren können.« Mias Ketten klirrten, als sie sich bewegte. Ihre Stimme klang näher, und Pauline vermutete, dass sie sich auf die Seite
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