Sara Linton 01 - Tote Augen
ihrem Baby, aber es war zu einfach, sich der Dunkelheit zu ergeben.
DREI TAGE SPÄTER
25 . Kapitel
P auline McGhee anzusehen, fiel einem schwer, auch wenn sie jetzt ihr Kind auf ihrem Schoß hielt. Ihre Lippen waren zerfetzt von dem Metalldraht, den sie durchgebissen hatte, deshalb nuschelte sie, als sie zu sprechen versuchte. Winzige Nähte hielten ihre Haut zusammen, sodass sie aussah wie etwas aus dem Film Frankenstein. Und doch war es schwer, Sympathie für sie zu empfinden, vielleicht weil Pauline Faith so oft » blöde Kuh« nannte, wie es noch nie jemand getan hatte.
» Blöde Kuh«, sagte sie. » Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Ich habe meine Familie seit zwanzig Jahren nicht gesehen.«
Will bewegte sich auf seinem Stuhl neben Faith. Sein Arm war mit einer Schlinge an seiner Brust fixiert, und er hatte sichtlich Schmerzen, doch er hatte darauf bestanden, bei der Befragung dabei zu sein. Faith konnte ihm nicht verdenken, dass er Antworten wollte. Leider wurde es nun sehr schnell offensichtlich, dass sie von Pauline keine bekommen würden.
» Tom hat in den letzten dreißig Jahren in sechzehn verschiedenen Städten gelebt«, sagte Will. » In zwölf davon gab es vermisste Frauen – Frauen, die entführt wurden und nie zurückkehrten. Er nahm sie sich immer paarweise. Zwei Frauen gleichzeitig.«
» Ich weiß, was ein verdammtes Paar ist.«
Will öffnete den Mund, aber Faith griff unter den Tisch und drückte sein Knie. Ihre gewohnte Taktik funktionierte nicht. Pauline McGhee war eine Überlebenskünstlerin, die bereit war, alles und jeden zu zertreten, um ihre eigene Haut zu retten. Sie hatte Olivia Tanner bewusstlos geschlagen, um dafür zu sorgen, dass sie die Erste war, die aus diesem Keller entkam. Sie hätte ihren eigenen Bruder erdrosselt, wenn Faith sie nicht davon abgehalten hätte. Sie war jemand, bei dem man mit Empathie nichts erreichte.
Faith riskierte etwas. » Pauline, hören Sie auf mit dem Unsinn. Sie wissen, dass Sie diesen Raum zu jeder Zeit verlassen können. Aber Sie bleiben aus einem bestimmten Grund hier.«
Die verletzte Frau schaute auf Felix hinunter, strich ihm über die Haare. Einen kurzen Augenblick lang wirkte Pauline McGhee beinahe menschlich. Etwas an dem Kind veränderte sie, und Faith begriff plötzlich, dass ihre harte Schale ein Schutz gegen die Welt war, den nur Felix durchdringen konnte. Der Junge war in ihren Armen eingeschlafen, kaum dass seine Mutter sich an den Konferenztisch gesetzt hatte. Sein Daumen wanderte immer wieder zu seinem Mund, Pauline zog ihn ein paar Mal wieder heraus und gab es dann auf. Faith konnte verstehen, warum sie ihren Sohn nicht aus den Augen lassen wollte, aber das hier war kaum eine Situation, zu der man ein Kind mitbrachte.
Pauline fragte: » Hätten Sie mich wirklich erschossen?«
» Was?«, fragte Faith, obwohl sie genau wusste, was die Frau meinte.
» Im Korridor«, sagte sie. » Ich hätte ihn umgebracht. Ich wollte ihn umbringen.«
» Ich bin Polizeibeamtin«, antwortete Faith. » Es ist meine Pflicht, Leben zu schützen.«
» Dieses Leben?«, fragte Pauline ungläubig. » Sie wissen doch, was dieses Arschloch getan hat.« Sie deutete mit dem Kinn auf Will. » Hören Sie auf Ihren Partner. Mein Bruder hat mindestens zwei Dutzend Frauen umgebracht. Glauben Sie wirklich, er hat einen Prozess verdient?« Sie drückte die Lippen auf Felix’ Kopf. » Sie hätten mich ihn töten lassen sollen. Ihn umbringen wie einen verdammten Hund.«
Faith antwortete nicht, weil es dazu nichts zu sagen gab. Tom Coldfield redete nicht. Er prahlte nicht mit seinen Verbrechen und bot nicht an, ihnen als Gegenleistung für sein Leben zu verraten, wo die Leichen vergraben waren. Er war entschlossen, ins Gefängnis zu gehen, wahrscheinlich in die Todeszelle. Er hatte nichts anderes verlangt als Brot und Wasser und seine Bibel, ein Buch, das an den Rändern mit Anmerkungen so vollgekritzelt war, dass der Text kaum noch zu lesen war.
Dennoch hatte Faith sich in den letzten Nächten im Bett herumgeworfen und diese wenigen Sekunden im Korridor immer und immer wieder durchlebt. Manchmal ließ sie Pauline ihren Bruder umbringen, manchmal musste sie die Frau letztendlich erschießen. Keines der Szenarien behagte ihr, und sie musste sich eingestehen, dass solche Gefühle nur die Zeit heilen konnte. Der Prozess der Verarbeitung wurde auch dadurch unterstützt, dass der Fall nicht mehr in Wills und Faiths Verantwortung lag. Da die Verbrechen des
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