Sara Linton 01 - Tote Augen
okay – ich hatte es schon viel länger ohne Essen ausgehalten. Aber Alexandra … Sie brach zusammen, weinte die ganze Zeit und bat mich, irgendetwas zu tun, um ihr zu helfen. Dann kam Tom, und ich flehte ihn an, ihr den Mund zu stopfen, irgendwas zu tun, damit ich sie nicht hören musste.« Wieder verstummte sie, anscheinend versunken in ihre Erinnerungen. » Und dann eines Tages änderte sich etwas. Er fing an, uns richtig zu bearbeiten.«
» Was tat er?«
» Zuerst redete er nur. Er hatte es ja mit diesem Bibelzeug – Zeug, das meine Mutter ihm in den Kopf gesetzt hatte, dass er der Ersatz für Judas sei, der Jesus verraten hatte. Sie sagte immer, dass ich sie verraten habe, dass sie mich unter ihrem Herzen getragen habe, damit ich ein gutes Kind werde, aber dass ich mich als verderbt erwiesen und ihre Familie mit meinen Lügen dazu gebracht habe, sie zu hassen.«
Faith zitierte den letzten Satz, den sie von Tom Coldfield gehört hatte. » O Absolom, ich bin erstanden.«
Pauline schauderte, als würden die Worte ihr tief ins Herz stechen. » Das ist aus der Bibel. Amnon vergewaltigte seine eigene Schwester, und nachdem er mit ihr fertig war, verstieß er sie als Hure.« Ihre zerfetzten Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln. » Absolom war Amnons Bruder. Er tötete ihn für die Vergewaltigung ihrer Schwester.« Sie lachte hart auf. » Schade, dass ich keinen zweiten Bruder hatte.«
» War Tom schon immer von Religion besessen?«
» Keine reguläre Religion. Keine normale. Er verdrehte die Bibeltexte so, dass sie zu dem passten, was er gerade tun wollte. Darum hielt er mich und Alexandra ja unter der Erde fest – damit wir die Chance bekämen, wie Jesus wiedergeboren zu werden.« Sie schaute Faith an. » Verrückte Scheiße, was? Stundenlang schwadronierte er, sagte uns, wie schlecht wir seien und dass er uns erlösen werde. Manchmal berührte er mich, aber ich konnte nichts sehen …« Sie schauderte, ihr ganzer Körper erbebte. Felix rührte sich, aber sie wiegte ihn wieder in den Schlaf.
Faith spürte ihr Herz in der Brust hämmern. Sie dachte an ihren Kampf mit Tom, seinen heißen Atem in ihrem Ohr, als er ihr sagte: » Wehr dich.«
Will fragte: » Was tat Tom, als er aufhörte, mit Ihnen und Alexandra zu reden?«
» Was meinen Sie, was er tat?«, fragte sie sarkastisch. » Er wusste nicht, was er tat, aber er wusste, es machte ihm Spaß, uns wehzutun.« Sie schluckte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. » Es war unser erstes Mal – für beide von uns. Wir waren erst fünfzehn. Damals vögelten Mädchen noch nicht herum. Wir waren keine Engel oder so, aber wir waren auch keine Schlampen.«
» Was tat er sonst noch?«
» Er hungerte uns aus. Nichts von dem, was er mit den anderen Frauen machte, aber es war schlimm genug.«
» Die Mülltüten?«
Sie nickte knapp. » Wir waren Müll für ihn. Nichts als Müll.«
Genau das hatte Tom im Korridor gesagt.
» Hat denn niemand Sie oder Alexandra vermisst, als Sie beide in der Höhle waren?«
» Sie dachten, wir wären durchgebrannt. Mädchen machen das, nicht? Sie laufen einfach von zu Hause weg, und wenn die Eltern dann sagen, dass die Mädchen schlecht sind, dass sie immer nur lügen und man ihnen nicht trauen kann, dann ist das keine große Sache, oder?« Sie ließ ihnen keine Zeit für eine Antwort. » Ich wette, Tom kriegte einen Steifen, als er die Polizei anlog und sagte, er hätte keine Ahnung, wo wir sind.«
» Wie alt war Tom, als das passierte?«
» Drei Jahre jünger als ich.«
» Zwölf«, sagte Will.
» Nein«, korrigierte ihn Pauline. » Sein Geburtstag stand noch bevor. Er war erst elf, als es passierte. Einen Monat später wurde er zwölf. Mom veranstaltete eine Party. Der kleine Freak war auf Kaution draußen, und sie gab für ihn eine Geburtstagsparty.«
» Wie kamen Sie aus der Höhle wieder raus?«
» Er ließ uns gehen. Er sagte, er würde uns umbringen, wenn wir irgendjemandem etwas sagten, aber Alexandra sagte es ihren Eltern trotzdem, und sie glaubten ihr.« Sie lachte schnaubend. » Ich wäre am Arsch gewesen, wenn sie ihr nicht geglaubt hätten.«
» Was passierte mit Tom?«
» Er wurde verhaftet. Die Polizei rief an, und Mom brachte ihn aufs Revier. Sie kamen ihn nicht holen. Sie nahmen ihn nicht fest. Sie riefen einfach bei uns an und sagten, man solle ihn bringen.« Sie hielt inne, um sich zu sammeln. » Tom wurde psychiatrisch begutachtet. Da gab es dieses ganze Gerede, man solle ihn in ein
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