Sara Linton 01 - Tote Augen
war für meine Mutter immer was Besonderes. Sie färbte Eier und hängte Girlanden auf und so Sachen. Sie erzählte Tom die Geschichte seiner Geburt und dass er was ganz Besonderes sei, dass sie sich so unbedingt einen Sohn gewünscht habe und dass er ihr Leben erst vollständig gemacht habe.«
» Ist das der Grund, warum Sie gerade an Ostern davongelaufen sind?«
» Ich lief weg, weil Tom im Hinterhof schon wieder ein Loch grub.«
Faith ließ ihr einen Augenblick Zeit, damit sie ihre Gedanken ordnen konnte. » Das war in Ann Arbor?«
Pauline nickte mit abwesendem Gesichtsausdruck. » Anfangs erkannte ich ihn gar nicht, wissen Sie?«
» Als er Sie entführte?«
» Es ging so schnell. Ich war so verdammt froh, Felix zu sehen. Ich dachte, ich hätte ihn verloren. Und dann fing mein Hirn an zu begreifen, dass es Tom war, der da stand, aber da war es schon zu spät.«
» Sie erkannten ihn?«
» Ich spürte ihn. Ich kann es nicht beschreiben. Ich wusste einfach mit jeder Faser meines Körpers, dass er es war.« Sie schloss für einige Sekunden die Augen. » Als ich im Keller wieder zu mir kam, konnte ich ihn noch immer spüren. Ich weiß nicht, was er mit mir gemacht hat, als ich ohnmächtig war. Ich weiß nicht, was er getan hat.«
Bei dem Gedanken musste Faith ein Schaudern unterdrücken. » Wie hat er Sie eigentlich gefunden?«
» Ich glaube, er wusste immer, wo ich war. Er kann sehr gut Leute aufspüren, sie beobachten, ihre Lebensgewohnheiten herausfinden. Ich schätze, ich habe es ihm auch nicht allzu schwer gemacht, indem ich Alexandras Name benutzte.« Sie lachte humorlos auf. » Vor eineinhalb Jahren rief er mich bei der Arbeit an. Können Sie das glauben? Wie wahrscheinlich ist es, dass ich einen solchen Anruf entgegennehme und Tom am anderen Ende ist?«
» Wussten Sie sofort, dass der Anrufer Tom war?«
» Verdammt, nein. Sonst hätte ich mir Felix geschnappt und wäre davongerannt.«
» Was wollte er, als er anrief?«
» Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Es war ein Werbe-Anruf.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. » Er erzählte mir von dem Heim, dass sie Spenden entgegennehmen und dafür Blankoquittungen ausstellen. Wir haben sehr viele reiche Kunden, und sie geben ihre Möbel für wohltätige Zwecke weg, um Steuern zu sparen. So haben sie ein besseres Gefühl, wenn sie eine Einrichtung für fünfzigtausend Dollar entsorgen und dafür eine für achtzigtausend kaufen.«
Faith konnte sich diese Beträge kaum vorstellen. » Also haben Sie beschlossen, Ihre Mandanten an das Heim zu verweisen?«
» Ich hatte die Nase voll von Goodwill. Die nennen einem eine Zeitspanne, zwischen zehn Uhr und Mittag zum Beispiel. Wer kann denn auf so was warten? Meine Kunden sind alle Millionäre. Sie können nicht den ganzen Vormittag herumsitzen und warten, dass irgendein Obdachloser auftaucht. Tom sagte, das Heim mache Termine aus und halte sie auch ein. Und das war auch immer so. Sie waren freundlich und sauber, was schon viel heißt, das können Sie mir glauben. Ich habe jedem geraten, sich an sie zu wenden.« Sie merkte erst jetzt, was sie eben gesagt hatte. » Ich habe es jedem gesagt.«
» Auch den Frauen in Ihrem Chatroom?«
Sie schwieg.
Faith berichtete ihr, was sie in den letzten beiden Tagen herausgefunden hatten. » Anna Lindseys Kanzlei fing vor sechs Monaten an, dem Heim unentgeltlich juristischen Beistand zu leisten. Olivia Tanners Bank wurde letztes Jahr zum Großsponsor. Jackie Zabel rief das Heim an, damit sie Sachen aus dem Haus ihrer Mutter abholen. Sie alle hatten irgendwo von dem Heim gehört.«
» Das … das wusste ich nicht.«
Es war ihnen noch immer nicht gelungen, in diesen Chatroom einzudringen. Die Site war viel zu gut geschützt, und das Knacken des Passworts war dem FBI nicht mehr sonderlich wichtig, weil der Täter ja bereits im Gefängnis saß. Doch Faith brauchte die Bestätigung. Sie musste sie von Pauline bekommen. » Sie haben in dem Chatroom über das Heim geschrieben, nicht?«
Pauline antwortete noch immer nicht.
» Sagen Sie es mir«, sagte Faith, und aus irgendeinem Grund funktionierte die Aufforderung.
» Ja. Ich habe darüber geschrieben.«
Faith hatte nicht gemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte. » Woher wusste Tom, dass sie alle Essstörungen hatten?«
Pauline hob den Kopf. Auf ihre Wangen war ein wenig Farbe zurückgekehrt. » Woher wussten Sie es?«
Faith überlegte. Sie wusste es, weil sie das Leben der Frauen recherchiert hatte, so methodisch, wie Tom
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