Sara Linton 01 - Tote Augen
überlegen konnte.
» Wissen Sie«, setzte er an, » wenn Sie abnehmen wollen, könnte ich …«
» Will«, unterbrach sie ihn, » ich bin die letzten achtzehn Jahre meines Lebens auf Diät. Wenn ich mich gehen lassen will, dann lasse ich mich gehen.«
» Ich habe ja nicht gesagt …«
» Außerdem habe ich nur fünf Pfund zugenommen«, log sie. » Es ist ja nicht so, dass ich ein Goodyear-Logo auf dem Hintern habe.«
Will schaute auf die Handtasche auf ihrem Schoß und presste die Lippen zusammen. Schließlich sagte er: » Tut mir leid.«
» Vielen Dank.«
» Wenn Sie nicht …« Er beendete den Satz nicht, sondern nahm den Becher aus dem Halter. Faith schaltete das Radio an, damit sie ihn nicht schlucken hören musste. Es war leise gestellt, und sie hörte das Gemurmel eines Nachrichtensprechers aus den Lautsprechern dringen. Sie drückte Knöpfe, bis sie etwas Sanftes und Harmloses fand, das ihr nicht auf die Nerven ging.
Sie spürte, wie der Sicherheitsgurt sich straffte, als Will wegen eines Fußgängers bremste, der über die Straße rannte. Faith hatte keine Entschuldigung dafür, dass sie ihn anblaffte, und er war ja nicht blöd – er merkte offensichtlich, dass etwas nicht stimmte, aber wie üblich wollte er sie nicht bedrängen. Es tat ihr beinahe leid, dass sie ihm nichts sagte, aber Will war auch nicht gerade berühmt für seine Mitteilsamkeit. Nur durch Zufall war sie darauf gekommen, dass er Legastheniker war. Zumindest hielt sie es für Legasthenie. Leseprobleme hatte er auf jeden Fall, aber sie hatte keine Ahnung, was genau dahintersteckte. Faith hatte ihn beobachtet und herausgefunden, dass er einige Wörter lesen konnte, dass er aber ewig dazu brauchte und sie sehr oft auch falsch interpretierte. Als sie versuchte, ihn nach einer möglichen Diagnose zu fragen, hatte er ihr so barsch das Wort abgeschnitten, dass Faith rot geworden war vor Verlegenheit, diese Frage überhaupt gestellt zu haben.
Sie hasste es zuzugeben, dass er recht damit hatte, sein Problem zu verbergen. Faith arbeitete lange genug bei der Truppe, um zu wissen, dass die meisten Polizisten gerade erst dem Urschlamm entstiegen waren. Sie waren ein eher konservativer Haufen und Ungewöhnlichem gegenüber nicht gerade aufgeschlossen. Vielleicht weil sie sich mit den verrücktesten Elementen, die die Gesellschaft zu bieten hatte, herumschlagen mussten, wiesen sie alles Anomale in ihren eigenen Reihen zurück. Faith wusste, falls Wills Legasthenie bekannt werden würde, würde kein Polizist in seiner Umgebung ihm das unkommentiert durchgehen lassen. Er hatte schon jetzt Schwierigkeiten, akzeptiert zu werden. Dann aber würde er zum permanenten Außenseiter werden.
Will fuhr rechts auf die Moreland Avenue, und sie fragte sich, woher er wusste, wohin sie mussten. Richtungen waren eine Herausforderung für ihn, rechts und links eine beinahe unüberwindliche Schwierigkeit. Dennoch verstand er es unglaublich geschickt, sein Problem zu verbergen. Für die Zeiten, da sein schockierend gutes Gedächtnis nicht ausreichte, hatte er einen Digitalrekorder, den er in der Tasche trug wie die meisten anderen Polizisten ihren Notizblock. Manchmal machte er einen Fehler, aber meistens staunte Faith über seine Leistungen. Er hatte es durch die Schule und dann durchs College geschafft, und niemand hatte auch nur bemerkt, dass er ein Problem hatte. Dass er in einem Waisenhaus aufgewachsen war, hatte ihm auch nicht gerade einen guten Start ins Leben ermöglicht. Auf seinen Erfolg konnte er wirklich stolz sein, und das machte die Tatsache, dass er seine Behinderung verbergen musste, nur noch herzzerreißender.
Sie waren mitten in Little Five Points, einem eklektischen Teil der Stadt, in dem schäbige Bars neben überteuerten Boutiquen standen, als Will endlich sprach. » Alles okay mit Ihnen?«
» Ich habe gerade überlegt«, setzte Faith an, auch wenn sie dann nicht sagte, was sie eigentlich dachte. » Was wissen wir über die Opfer?«
» Beide haben dunkle Haare. Beide sind fit, attraktiv. Wir glauben, der Name der Frau im Krankenhaus ist Anna. Laut dem Führerschein ist diejenige, die im Baum hing, Jacquelyn Zabel.«
» Was ist mit Fingerabdrücken?«
» Auf dem Taschenmesser war ein latenter Abdruck, der zu Zabel gehört. Der Abdruck auf dem Führerschein brachte kein Ergebnis – er stammt nicht von Zabel, und es gibt auch keine Übereinstimmung im Computer.«
» Wir könnten ihn mit Annas Abdrücken vergleichen. Falls Anna den
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