Sara Linton 01 - Tote Augen
leben.«
» Stellen Sie sich vor, wie das mit dem ganzen Zeug auf der Straße hier drinnen aussah.« Faith nahm einen verrosteten Schneebesen zur Hand, der auf einem Stapel Life -Magazine lag. » Manchmal fangen alte Leute an, Sachen zu horten, und können dann nicht mehr aufhören.«
» Das ist verrückt«, sagte er und wischte mit der Hand über einen Stapel alter 45er Schallplatten. Staub wirbelte in die schale Luft.
» Im Haus meiner Großmutter sah es noch schlimmer aus«, sagte Faith. » Wir brauchten zwei Wochen, bis wir überhaupt durch die Küche gehen konnten.«
» Warum macht man so was?«
» Ich weiß es nicht«, gab sie zu. Faiths Großvater starb, als Faith noch ein Kind gewesen war, und ihre Oma Mitchell hatte den Großteil ihres Lebens allein verbracht. In ihren Fünfzigern hatte sie angefangen zu sammeln, und als sie dann in ein Pflegeheim umzog, war das Haus bis zum Dach mit nutzlosen Dingen angefüllt. Als sie sich nun im Haus einer anderen einsamen, alten Frau umsah und eine ähnliche Sammelleidenschaft feststellte, fragte sie sich, ob eines Tages Jeremy dasselbe über ihre Haushaltsführung sagen würde.
Wenigstens würde er einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester haben, die ihm helfen konnten. Faith legte sich die Hand auf den Bauch und dachte über das Kind nach, das in ihr wuchs. War es ein Mädchen oder ein Junge? Würde es ihre blonden Haare haben oder das dunkle Latino-Aussehen seines Vaters? Jeremy sah seinem Vater zum Glück überhaupt nicht ähnlich. Faiths erste Liebe war ein schlaksiger Hinterwäldler mit einem Körperbau wie Spike von den Peanuts gewesen. Als Baby war Jeremy beinahe zart gewesen wie ein dünnes Stück Porzellan. Er hatte die süßesten, kleinen Füße gehabt. In diesen ersten Tagen hatte Faith stundenlang nur seine winzigen Zehen angestarrt und seine Sohlen geküsst. Sie hatte ihn als das Erstaunlichste auf dieser Welt betrachtet. Er war ihre kleine Puppe gewesen.
» Faith?«
Sie ließ die Hand sinken und fragte sich, was das eben gewesen war. Heute Morgen hatte sie sich genug Insulin gespritzt. Vielleicht spürte sie einfach die typischen hormonellen Schübe der Schwangerschaft. Wie, um alles in der Welt, sollte sie so etwas noch einmal durchstehen? Und wie sollte sie es alleine schaffen?
» Faith?«
» Sie müssen nicht dauernd meinen Namen wiederholen, Will.« Sie deutete in den hinteren Teil des Hauses. » Schauen Sie sich die Küche an. Ich übernehme die Schlafzimmer.«
Er betrachtete sie eingehend, bevor er in die Küche ging.
Im Gang musste Faith sich einen Weg zwischen kaputten Mixern und Toastern und Telefonen hindurchbahnen, um zu den Schlafzimmern zu kommen. Sie fragte sich, ob die alte Frau alle diese Sachen zusammengesammelt oder im Verlauf ihres Lebens angehäuft hatte. Die gerahmten Fotos an den Wänden sahen alt aus, einige davon in Sepia und Schwarzweiß. Faith schaute sie flüchtig an, als sie nach hinten ging, und fragte sich, wann die Leute angefangen hatten, für Fotos zu lächeln und warum. Sie hatte ein paar ältere Fotos von den Großeltern ihrer Mutter, die sie hütete wie einen Schatz. Sie hatten während der Depression auf einer Farm gelebt, und ein reisender Fotograf hatte eine Aufnahme ihrer kleinen Familie und eines Maultiers namens Big Pete gemacht. Damals hatte nur das Maultier gelächelt.
An Gwendolyn Zabels Wand hing kein Big Pete, aber eines der Farbfotos zeigte nicht ein, sondern zwei junge Mädchen, beide mit dunkelbraunen Haaren, die bis über die bleistiftdünnen Taillen reichten. Sie waren einige Jahre auseinander, aber eindeutig Schwestern. Keines der jüngeren Fotos zeigte die beiden gemeinsam. Jacquelyns Schwester schien Wüstenszenen für die Fotos zu bevorzugen, die sie ihrer Mutter schickte, während die Fotos von Jacquelyn sie eher an einem Strand zeigten, mit knappem Bikinihöschen weit unter ihren knabenhaften Hüften. Faith konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass sie, wenn sie mit achtunddreißig Jahren auch so toll aussehen würde, sich ebenfalls im Bikini fotografieren lassen würde. Es gab nur wenige neuere Fotos von Jacquelyns Schwester, die mit dem Alter etwas draller geworden zu sein schien. Faith hoffte, dass sie mit ihrer Mutter in Kontakt geblieben war. Dann könnten sie sie nämlich über eine Anrufrückverfolgung aufspüren.
Das erste Schlafzimmer hatte keine Tür. Stapel von Unrat füllten das Zimmer – noch mehr Zeitschriften und Magazine. Es gab auch einige Schachteln,
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