Sara Linton 01 - Tote Augen
größtenteils aber war es einfach nur Müll, der ein Betreten des kleinen Zimmers fast unmöglich machte. Ein modriger Geruch hing in der Luft, und Faith dachte an einen Bericht, den sie vor vielen Jahren in den Nachrichten gesehen hatte, die Geschichte einer Frau, die sich an einer Seite eines alten Magazins geschnitten hatte und danach an einer merkwürdigen Krankheit gestorben war. Faith trat rückwärts wieder in den Gang und schaute ins Bad. Noch mehr Gerümpel, aber jemand hatte den Weg zur Toilette freigeräumt und sie geputzt. Eine Zahnbürste und einige andere Toilettenartikel waren ordentlich am Waschbeckenrand aufgereiht. In der Badewanne türmten sich Mülltüten. Der Duschvorhang war fast schwarz vor Schimmel.
Faith musste sich zur Seite drehen, um durch die Tür ins große Schlafzimmer zu kommen, denn neben der Tür stand ein alter Schaukelstuhl, der so mit Kleidungsstücken überhäuft war, dass er umgefallen wäre, wenn die Tür ihn nicht gestützt hätte. Im Zimmer selbst lagen weitere Kleidungsstücke verstreut, alles Sachen, die man als Klassiker bezeichnen und für Hunderte von Dollars in den schicken Boutiquen in Little Five Points verkaufen könnte.
Es war warm im Haus, und Faith fiel es deshalb schwer, die Latexhandschuhe über die schweißfeuchten Hände zu bekommen. Sie ignorierte den Nadelstich auf ihrem Zeigefinger, denn sie wollte nicht an noch etwas denken, das aus ihr ein schluchzendes Häuflein Elend machen könnte.
Sie fing mit der Kommode an. Alle Schubladen waren offen, es ging deshalb nur darum, in den Wäschestücken zu wühlen und nach Briefen oder einem Adressbuch zu suchen, in dem vielleicht die nächsten Verwandten aufgelistet waren. Das Bett war ordentlich gemacht, das Einzige im Haus, was man überhaupt als ordentlich bezeichnen konnte. Doch es ließ sich nicht sagen, ob Jacquelyn Zabel im Bett ihrer Mutter geschlafen oder ob sie ein Hotel in der Innenstadt vorgezogen hatte.
Vielleicht aber doch nicht. Auf dem Boden entdeckte Faith eine offene Reisetasche neben einem Laptop-Koffer. Eigentlich hätte sie die beiden Sachen sofort bemerken müssen, denn mit ihren unverkennbaren Designer-Logos und den weichen Lederhüllen waren sie hier eindeutig fehl am Platze. Faith öffnete den Laptop-Koffer und fand ein McBook Air, für das ihr Sohn getötet hätte. Sie schaltete es ein, doch die Begrüßungsoberfläche fragte nach Benutzernamen und Passwort.
Charlie würde den Laptop an die entsprechenden Spezialisten weiterleiten, die dann versuchen würden, ihn zu knacken, aber nach Faiths Erfahrung war ein passwortgeschützter Mac so gut wie nicht zu öffnen, nicht einmal vom Hersteller.
Als Nächstes durchsuchte Faith die Reisetasche. Die Kleidung darin war Designerware – Donna Karan, Jones of New York. Die Jimmy Choos waren besonders beeindruckend, vor allem für Faith, die einen Rock trug, der auch als Zelt hätte durchgehen können, da sie in ihrem Schrank keine Hose mehr fand, die sie noch zuknöpfen konnte. Jacquelyn Zabel hatte solche kleidungstechnischen Schwierigkeiten offensichtlich nicht gehabt, und Faith wunderte sich, dass jemand, der sich allem Anschein nach anderes leisten konnte, es vorzog, in diesem grässlichen Haus zu wohnen.
Jacquelyn hatte also anscheinend in diesem Zimmer geschlafen. Das ordentlich gemachte Bett, das Glas Wasser und die Lesebrille auf dem Nachtkästchen daneben, das alles deutete auf einen Benutzer in jüngster Zeit hin. Außerdem gab es eine riesige Flasche mit Aspirin. Faith schraubte den Deckel ab und sah, dass sie halb leer war. Wahrscheinlich würde sie ebenfalls Aspirin brauchen, wenn sie das Haus ihrer Mutter ausräumte. Faith hatte den Kummer ihres Vaters gesehen, als er seine Mutter in einer Einrichtung für betreutes Wohnen hatte unterbringen müssen. Der Mann war schon vor Jahren gestorben, aber Faith wusste noch sehr gut, er war nie darüber hinweggekommen, dass er seine Mutter in ein Heim stecken musste.
Faith spürte, wie ihre Augen sich gegen ihren Willen mit Tränen füllten. Sie stöhnte und wischte sie mit dem Handrücken weg. Seit sie auf dem Schwangerschaftstest das Plus gesehen hatte, war kein Tag vergangen, an dem ihr Hirn nicht eine Geschichte aus dem Hut zauberte, die sie zum Weinen brachte.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Reisetasche, tastete nach Papier – ein Notizbuch, ein Tagebuch, ein Flugticket –, als sie auf der anderen Seite des Hauses Geschrei hörte. Faith fand Will in der Küche. Eine sehr
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