Sara Linton 01 - Tote Augen
Candy: » Wann haben Sie Jackie zum letzten Mal gesehen?«
» Letztes Wochenende. Sie kam rüber, weil sie Gesellschaft wollte.«
» Was für eine Art von Gesellschaft?«
Candy reagierte ausweichend, und Faith fing wieder an, Leos Nummer zu wählen.
» Na gut«, stöhnte die Frau. » Mein Gott! Wir haben ein bisschen Gras geraucht. Sie war total durchgedreht wegen dieser Scheiße hier. Sie hatte ihre Mutter schon eine ganze Weile nicht besucht. Keiner von uns wusste, wie schlimm es geworden war.«
» Keiner von uns heißt wer?«
» Ich und ein paar Nachbarn. Wir hatten ein Auge auf Gwen. Sie ist eine alte Frau. Ihre Töchter leben in anderen Bundesstaaten.«
Offensichtlich hatten sie kein besonders scharfes Auge auf Gwen gehabt, sonst hätten sie bemerkt, dass sie in extrem feuergefährlichen Umständen lebte. » Kennen Sie die andere Tochter?«
» Joelyn«, entgegnete sie und nickte zu der Liste am Kühlschrank. » Sie kam nie zu Besuch. Zumindest nicht in den zehn Jahren, die ich hier wohne.«
Faith schaute noch einmal zu Will. Er starrte auf irgendetwas hinter Candys Schulter. Sie fragte die Frau: » Jackie haben Sie also vor einer Woche zum letzten Mal gesehen?«
» Das stimmt.«
» Was ist mit ihrem Auto?«
» Bis vor ein paar Tagen stand es in der Einfahrt.«
» Ein paar Tage im Sinne von zwei?«
» Ich schätze, es sind eher vier oder fünf Tage. Ich habe ein eigenes Leben. Es ist ja nicht so, dass ich Buch führe über das Kommen und Gehen der Nachbarn.«
Faith ignorierte den Sarkasmus. » Haben Sie in der Umgebung irgendjemand Verdächtigen gesehen?«
» Ich habe doch schon gesagt, nein.«
» Wer war der Immobilienmakler?«
Sie nannte einen der Spitzenmakler in der Stadt, ein Mann, dessen Reklameplakat an jeder Bushaltestelle hing. » Jackie hatte ihn nie persönlich getroffen. Sie besprachen alles per Telefon. Er hatte das Haus schon verkauft, bevor das Schild überhaupt im Garten stand. Es gibt einen Bauunternehmer, der ein Dauerangebot auf alle Grundstücke hier in der Gegend abgegeben hat, er zahlt bar und schließt das Geschäft innerhalb von zehn Tagen ab.«
Faith wusste, das war nicht ungewöhnlich. Auch ihr eigenes, bescheidenes Haus war im Lauf der Jahre mehrerer solcher Angebote ausgesetzt gewesen – keines davon annehmbar, denn dann hätten sie sich in ihrem eigenen Viertel kein neues Haus leisten können. » Was ist mit Umzugsfirmen?«
» Schauen Sie sich diese ganze Scheiße an.« Candy schlug mit der Hand auf einen zerbröselnden Papierstapel. » Das Letzte, was Jackie mir sagte, war, dass sie sich einen dieser Bauschutt-Container hinstellen lassen wollte.«
Will räusperte sich. Er schaute nun nicht mehr die Wand an, aber auch nicht direkt die Zeugin. » Warum nicht einfach alles hierlassen?«, fragte er. » Das ist vorwiegend Müll. Und der Bauunternehmer lässt das Haus doch sowieso abreißen.«
Candy schien entsetzt über den Gedanken. » Das ist das Haus ihrer Mutter. Sie ist hier aufgewachsen. Ihre Kindheit liegt unter dieser ganzen Scheiße begraben.«
Will zog sein Handy aus der Tasche, als hätte es geklingelt. Faith wusste, dass der Vibrationsalarm kaputt war. Amanda hätte ihm bei einer Besprechung letzte Woche beinahe den Kopf abgerissen, weil es geklingelt hatte. Dennoch schaute Will auf das Display und sagte dann: » Entschuldigen Sie mich.« Mit dem Fuß Magazinstapel beiseiteschiebend, ging er zur Hintertür hinaus.
Candy fragte: » Was hat er für ein Problem?«
» Er ist allergisch gegen Zicken«, entgegnete Faith spitz, doch wenn das stimmen würde, müsste er nach diesem Vormittag von Kopf bis Fuß Ausschlag haben. » Wie oft besuchte Jackie ihre Mutter?«
» Ich bin doch nicht ihre soziale Sekretärin.«
» Vielleicht hilft eine Fahrt aufs Revier Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.«
» O Gott«, murmelte sie. » Okay. Vielleicht ein paar Mal im Jahr – wenn überhaupt.«
» Und ihre Schwester Joelyn haben Sie noch nie gesehen?«
» Nee.«
» Haben Sie viel Zeit mit Jackie verbracht?«
» Nicht viel. Ich würde uns nicht Freundinnen oder so was nennen.«
» Was war, als Sie letzte Woche miteinander geraucht haben? Hat sie irgendwas aus ihrem Leben erzählt?«
» Sie erzählte mir, dass das Pflegeheim, in das sie ihre Mutter geschickt hat, fünfzig Riesen pro Jahr kostet.«
Faith verkniff sich ein Pfeifen. » Dahin geht also der Erlös für das Haus.«
Candy schien das nicht zu glauben. » Mit Gwen ging es schon eine ganze Weile stetig
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