Sara Linton 01 - Tote Augen
Sie hatte ihn so oft gefaltet, dass der Umschlag am Knick bereits aufbrach und darunter das leuchtende Gelb des Juristenpapiers zum Vorschein kam. Was würde sie tun, wenn er eines Tages plötzlich aufging? Was würde sie tun, wenn sie eines Morgens zufällig nach unten schaute und die ordentliche Handschrift sah, die peinlichen Erklärungen und offenkundigen Ausreden der Frau, deren Verhalten zu Jeffreys Tod geführt hatten?
» Sara Linton!«, rief Pete Hanson dröhnend, als er den Fuß auf die letzte Treppenstufe stellte. Er trug ein leuchtend buntes Hawaii-Hemd, sein bevorzugter Kleidungsstil, wie Sara sich erinnerte, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war eine Mischung aus Freude und Neugier. » Welchem Anlass verdanke ich dieses außerordentliche Vergnügen?«
Sie sagte ihm die Wahrheit. » Ich habe es geschafft, mich in einen Ihrer Fälle einzuschleichen.«
» Aha, die Studentin übernimmt für den Lehrer.«
» Ich glaube nicht, dass Sie schon bereit sind, das alles hier aufzugeben.«
Er zwinkerte ihr anzüglich zu. » Sie wissen doch, ich habe das Herz eines Neunzehnjährigen.«
Sara wusste sofort, was von ihr erwartet wurde. » Haben Sie es noch immer in einem Glas über Ihrem Schreibtisch?«
Pete lachte schallend, als würde er den Spruch zum ersten Mal hören.
Sara meinte, sich erklären zu müssen, und sagte deshalb: » Ich habe eines der Opfer gestern Nacht im Krankenhaus gesehen.«
» Ich habe von ihr gehört. Folter, massive Gewalteinwirkung?«
» Ja?«
» Prognose?«
» Man versucht gerade, die Infektion unter Kontrolle zu bringen.« Sara ging nicht näher darauf ein, aber das brauchte sie auch gar nicht. Pete sah immer wieder Krankenhauspatienten, die auf eine Behandlung mit Antibiotika nicht angesprochen hatten.
» Haben Sie eine komplette Vergewaltigungsuntersuchung gemacht?«
» Präoperativ war keine Zeit dazu, und post…«
» Ist die Beweiskette kontaminiert.« Pete kannte sich mit den juristischen Feinheiten aus. Anna war mit Betadine übergossen und unzähligen verschiedenen Umwelteinflüssen ausgesetzt worden. Ein guter Verteidiger konnte einen Experten als Zeugen benennen, der argumentieren würde, dass die Ergebnisse einer Vergewaltigungsuntersuchung, die erst nach den Prozeduren einer Operation vorgenommen worden war, zu kontaminiert waren, um als Beweismittel zu dienen.
Sara sagte zu ihm: » Ich habe unter ihren Fingernägeln ein paar Splitter entfernt, aber ich dachte mir, das Beste, was ich anbieten kann, ist ein forensischer Vergleich der beiden Opfer.«
» Eine ziemlich zweifelhafte Argumentation, aber ich freue mich so, Sie zu sehen, dass ich über Ihre mangelhafte Logik hinwegsehe.«
Sie lächelte; Pete war schon immer unverblümt gewesen auf diese freundliche, südliche Art – einer der Gründe, warum er ein so guter Lehrer war. » Vielen Dank.«
» Das Vergnügen Ihrer Anwesenheit ist als Belohnung mehr als genug.« Er öffnete die Tür und bat sie hinein. Sara zögerte, und er sagte: » Vom Gang aus sieht man kaum was.«
Sara versuchte, ein Pokerface aufzusetzen, als sie ihm in die Leichenhalle folgte. Der Geruch traf sie als Erstes. Sie hatte diesen Geruch immer als erstickend empfunden, doch man musste ihn schon selbst gerochen haben, um das zu verstehen. Vorherrschend war jedoch nicht der Geruch des Todes, sondern der der Chemikalien, die verwendet wurden. Bevor ein Skalpell Fleisch berührte, wurden die Verstorbenen katalogisiert, geröntgt, ausgezogen und mit Desinfektionsmittel gewaschen. Ein anderes Reinigungsmittel wurde benutzt, um die Böden zu wischen, ein weiteres für die Edelstahltische, und noch ein anderes reinigte und sterilisierte die Instrumente der Autopsie. Miteinander erzeugten sie einen unvergesslichen, extrem süßlichen Geruch, der einem in die Haut drang und tief in der Nase klebte, sodass man ihn gar nicht bemerkte, bis man eine Weile woanders war.
Als Sara Pete in den hinteren Teil des Saals folgte, fühlte sie sich in seinem Gefolge wie gefangen. Die Leichenhalle war von der ewigen Hektik des Grady so weit entfernt wie Grant County von Grand Central. Im Gegensatz zur endlosen Tretmühle der Fälle in der Notaufnahme war eine Autopsie immer eine eng umgrenzte Fragestellung, auf die es fast immer eine Antwort gab. Blut, Körperflüssigkeiten, Organe, Gewebe – jede Komponente trug ein Stück zum Puzzle bei. Eine Leiche konnte nicht lügen. Die Toten konnten ihre Geheimnisse nicht immer mit ins Grab nehmen.
In Amerika sterben
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