Sara
Veränderungen bringen.
Ich ging spazieren und versuchte nicht nachzudenken - ein alter Trick aus meinen Tagen als Schriftsteller. Laß deinen Körper arbeiten, den Verstand ruhen, sollen die Jungs im Keller ihren Job machen. Ich kam an Rastplätzen vorbei, wo Jo und ich einst getrunken und gegrillt und gelegentlich an Kartenspielen teilgenommen hatten, ich sog die Stille wie ein Schwamm in mich auf, trank meinen Saft, strich mir mit den Armen den Schweiß von der Stirn und wartete ab, welche Gedanken mir in den Sinn kommen würden.
Der erste war eine seltsame Erkenntnis: daß das weinende Kind in der Nacht irgendwie realer zu sein schien als der Anruf
von Max Devore. War ich tatsächlich an meinem ersten Abend im TR von einem reichen und offenbar übellaunigen Techno-Mogul angerufen worden? Hatte besagter Mogul mich im Verlauf des Gesprächs wirklich einen Lügner genannt? (Ich war einer, wenn man die Geschichte bedachte, die ich erzählt hatte, aber darum ging es nicht.) Ich weiß, daß es passiert war, aber es fiel mir leichter, an den Geist des Dark Score Lake zu glauben, der an Lagerfeuern nur das Geheimnisvolle Weinende Kind genannt wurde.
Mein nächster Gedanke - kurz bevor ich meinen Saft austrank - war der, daß ich Mattie Devore anrufen und ihr erzählen sollte, was geschehen war. Ich entschied, daß es ein logischer Impuls, aber wahrscheinlich keine gute Idee war. Ich war zu alt, um an so simple Konstruktionen wie Die Bedrängte Dame Gegen Den Bösen Stiefvater zu glauben … oder, in diesem Fall, den Bösen Schwiegervater. Ich hatte in diesem Sommer selbst Probleme genug und wollte meine Situation nicht unnötig komplizieren, indem ich mich in einen möglicherweise häßlichen Disput zwischen Mr. Computer und Ms. Wohnwagen einmischte. Devore hatte mir den Pelz gegen den Strich gebürstet - und zwar kräftig -, aber das war wahrscheinlich nicht persönlich gemeint, sondern nur aus alter Gewohnheit geschehen. He, manche Typen lassen es bei den Frauen krachen. Wollte ich ihm deswegen auf die Füße treten? Nein. Wollte ich nicht. Ich hatte die kleine Miss Red Sox gerettet, ich hatte unfreiwillig Moms kleine, aber angenehm feste Brust gestreift, ich hatte gelernt, daß Kyra griechisch war und damenhaft bedeutete. Noch mehr zu verlangen wäre geradezu gierig gewesen, bei Gott.
An der Stelle hielt ich inne, sowohl mit Gehen als auch mit Denken, und stellte fest, daß ich den ganzen Weg bis zu Warrington’s gegangen war, einem geräumigen Bretterbauwerk, das die Einheimischen manchmal den Country Club nannten. In gewisser Weise war es das auch - es hatte einen Golfplatz mit sechs Löchern, einen Stall und eine Reitbahn, ein Restaurant, eine Bar und bot im Hauptgebäude und in den wie Satelliten ringsum verteilten neun Kabinen etwa drei Dutzend Gästen Unterkunft. Es gab sogar zwei Bowlingbahnen, allerdings
mußten die beiden Parteien abwechselnd die Kegel von Hand aufstellen. Warrington’s war gegen Anfang des Ersten Weltkriegs gebaut worden. Damit war es jünger als Sara Lacht, aber nicht viel.
Ein langer Steg führte zu einem kleineren Gebäude namens Sunset Bar. Dort versammelten sich die Sommergäste Warrington’s am Abend auf Drinks (und manche am Morgen auf Bloody Marys). Und als ich dorthin sah, stellte ich fest, daß ich nicht mehr allein war. Auf der Veranda links von der schwimmenden Bar stand eine Frau und beobachtete mich.
Sie jagte mir einen ziemlichen Schrecken ein. Meine Nerven waren nicht in der besten Verfassung, was wahrscheinlich etwas damit zu tun hatte … aber ich denke, sie hätte mir in jedem Fall einen Schrecken eingejagt. Teils lag es an ihrer Reglosigkeit. Teils daran, daß sie außergewöhnlich dünn war. Am meisten jedoch an ihrem Gesicht. Haben Sie je dieses Bild von Edvard Munch gesehen, ›Der Schrei‹? Nun, stellen Sie sich dieses schreiende Gesicht in Ruhe vor, Mund geschlossen und Augen wachsam, dann haben Sie eine ziemlich gute Vorstellung von der Frau, die am Steg stand und die langen Finger einer Hand auf dem Geländer liegen hatte. Obwohl ich gestehen muß, daß mein erster Gedanke nicht Edvard Munch war, sondern Mrs. Danvers .
Sie schien um die Siebzig zu sein und trug schwarze Shorts über einem schwarzen einteiligen Badeanzug. Die Kombination sah sonderbar förmlich aus, eine Variante des stets beliebten kleinen schwarzen Cocktailkleids. Ihre Haut war weiß wie Sahne, nur nicht über der beinahe flachen Brust und auf den knochigen Schultern. Dort wimmelte es
Weitere Kostenlose Bücher